Kieselblog

Flusskiesels Tagebuch

Wenn die Winter kalt waren

Wenn die Winter kalt waren bekamen sie Hunger und dann schlichen sie des nachts in unser Tal.
Dieser Winter war sehr kalt.


Irgendwie hatten sie den Hühnerstall aufgebrochen und das schrille Gegacker des Federviehs hatte uns geweckt. Vater, Stephan und der Knecht hatten sich notdürftig mit Axt, Sense und Mistgabel bewaffnet und waren nach draußen gestürzt. Die Männer mussten verhindern, dass sie auch die anderen Tiere rissen. Ohne die Kühe würden wir den Winter nicht überstehen.


Mutter hatte mich aus dem Bett geholt und in die Stube gebracht. Dort brannte die Kerze und Großmutter schürte das Kochfeuer. Mutter war sehr aufgeregt und wir beide knieten vor dem Kruzifix nieder um zu beten. Großmutter kniete sich einen Moment später dazu. Mutters helle war voller Panik als sie die Heiligen anrief. Sonst betete Mutter immer ganz leise:


„Heiliger Florian, bitte für uns!

Heiliger Thomas, bitte für uns!

Heiliger Nikolaus, bitte für uns!“

Als sich die drei Männer draußen in der Dunkelheit den Angreifern entgegen stellten, erklang ein lautes, hungriges und fast trauriges Heulen. Man konnte Mutter fast nicht mehr hören.

„Heilige Elisabeth, bitte für uns!

Heiliger Antonius, bitte für uns!“

Man hörte Holz splittern und jemand schrie laut auf. Mutters Stimme begann zu brechen.

Heiliger … bitte für uns … bitte für uns … bitte für uns …

Ein Mann – vielleicht Vater? – schrie gellend auf und Mutter begann zu weinen. Sie sah wunderschön aus wie sie da kniete und weinte und versuchte zu beten.


Dann konnte ich es riechen.

Der Blutgeruch war von draußen hineingeschlichen und kroch nun langsam in meine Nase hinein. Das Wasser lief mir im Mund zusammen und ich wollte mich aufrichten. Doch da spürte ich Großmutters Hand an meinem Arm. Ihre Hand war wie altes, knorriges Holz. Ich schaute Großmutter in die Augen. In die klaren, eisblauen Augen unter den wilden, zusammengewachsenen Augenbrauen. Man hatte mir immer gesagt, die blauen Augen und die Brauen hätten meinen Vater übersprungen und wären direkt von Großmutter auf mich gekommen. Streng sah sie mich an. So streng, dass ich mich zusammenriss und die Gedanken an lebendes, warmes Fleisch zurückdrängte. Ich versuchte, Mutter beim Beten zu helfen.

„Heiliger Ansgar, bitte für uns!

Heiliger Bonifazius, bitte für uns!
Bitte für uns!
Bitte für uns!

Einmal hatte ich Großmutter gefragt, warum der Baron uns nicht vor den Wölfen beschützen würde im Winter. Er habe doch ein Gewehr und sei doch von Stand. Großmutter hatte darauf geantwortet, der Baron würde in den Winternächten mit seinem teuren Gewehr auf den Knien in seiner Kammer sitzen und sich vor Angst in das Nachthemd scheißen. Mutter hatte darauf hin Großmutter gescholten wegen ihrer Ausdrucksweise, aber Großmutter hatte mich nur angelächelt und ich hatte sie verstanden.

Etwas Schweres donnerte gegen die Wand und Mutter schluchzte auf.

Sie sah jetzt ganz aus wie die weinende Mutter Gottes in der Kirche.

Auch ihre Augenbrauen waren nicht zusammengewachsen.

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