Seufzend trat der Mann seine Haftstrafe an. Zum Glück sollte sie nur wenige Wochen dauern – eine kleine Dummheit, begangen im Rausch:
Klirrendes Glas, eine geworfene Flasche, ein schreiendes Kind – das Übliche. Außerdem war der Mann privat rechtschutzversichert und hatte Anspruch auf eine Einzelzelle in einem Privatgefängnis. Die nahm er auch in Anspruch.
Als er im Gefängnis anrief, um zu fragen, ob er auch sein Haustier mitbringen dürfe, dachte man in der dortigen Verwaltung, es würde sich um einen Hund oder eine Katze handeln und sagte zu. Der Mann kam aber nicht mit einem Hund oder einer Katze. Es handelte sich auch nicht um einen Wellensittich oder einen Goldfisch.
Es war der Schneck.
Der Schneck war eine ca. 1,5 Meter lange Nacktschnecke, hervorgegangen aus einer der zahlreichen Mutationen nach dem Assebruch. Die Justizbeamten ekelten sich sehr vor diesem Vieh, aber der Gefangene bestand auf seiner Absprache mit der Gefängnisverwaltung. Man fügte sich – schließlich war der Mann privat versichert – und kümmerte sich um frisches Gemüse und frischen Salat.
Immer, wenn die Beamten die Zellentür öffneten, sahen sie sich vorsichtig um. Mal hing der Schneck an der Decke, mal an der Wand. Manchmal schmiegte sich der Schneck auch an den Gefangenen, einen der Fühler zu einem Ärmchen umgebildet, welches um sein Herrchen gelegt war. Die Beamten glaubten, ein leises Schnurren zu hören. Sie stellten das Essen schnell ab und machten sich dann davon.
So verging die Haftstrafe.
Eines Tages holte man den Mann aus seiner Zelle, gab ihm seine Papiere und entließ ihn. Vielleicht lag es an den Aushilfen, die an diesem Tag im Dienst waren, vielleicht lag es auch an dem Streß um diesen prominenten neuen Gefangenen – woran es auch immer lag:
Der Mann verließ das Gefängnis ohne den Schneck. Der Schneck blieb einfach in der Zelle.
Die Putzfrau, die ihn entdeckte, wurde mit Cognac aus dem Büro des Direktors beruhigt. Man versuchte, den ehemaligen Gefangenen zu erreichen, aber dummerweise waren sämtliche Adressdaten vom ihm falsch: Telefonnummer, Adresse, Google-Accountname – alles nicht erreichbar!
Die private Rechtsschutzversicherung gab auch keine Informationen heraus. Der Grund: Datenschutz.
Was also tun mit dem Tier?
Der Tierschutzverein fühlte sich nicht zuständig. Eine Schnecke sei kein richtiges Tier, meinte man dort, ausserdem wolle “sowas” eh kein Mensch haben.
Ein paar Justizbeamte plädierten dafür, die Zelle einfach für ein paar Wochen geschlossen zu halten, dann würde sich das Problem von alleine lösen. Doch dieser Plan war undurchführbar, denn ein oder zwei Beamte hatten Mitleid und warfen dem Schneck ab und ein ein paar Salatblätter in die Zelle.
Nach und nach gewöhnte man sich im Gefängnis an das neue Haustier. Zwar blockierte der Schneck eine Einzelzelle, dafür machte er (von ein wenig Schleim abgesehen) wenig Dreck und überhaupt keinen Lärm.
Bald jedoch fiel den Beamten auf, dass sich immer mehr ungefressene Salatblätter auf dem Zellenboden sammelten. Der Schneck lag teilnahmslos herum und seine Farbe wechselte von knallrot in ein kränkliches Grau.
Selbst den Damen aus dem Direktorenbüro tat der Schneck leid. Sie versuchten, ihn mit frischem Salat zu füttern, zaghaft strichen sie ihm über die Fühler.
Doch es half nichts.
Der Schneck wurde von Tag zu Tag schwächer. Ein leises, trauriges Wimmern erfüllte den Raum. Sein Leid steckte die Menschen um ihn herum an – Wärter und Gefangene gleichermaßen.
Irgendwann hielt es Klaus K., Justizvollzugsbeamter und Sohn eines Bauern im Westfälischen, nicht mehr aus. Er besorgte einen Sack voll Schneckentod und erlöste das Tier von seinen Qualen.
Der Schneck rollte sich zusammen. Verlor auch noch den Rest von Farbe. Ein tiefer Seufzer, dann war tot.
Auf der Beisetzung des Schnecks im Kräutergarten der Justizvollzugsanstalt flossen viele ehrliche Tränen.
Von seinem ehemaligen Besitzer hat man nie mehr etwas gehört.