Kieselblog

Flusskiesels Tagebuch

Reblog: Mitternachtsmädchen

Das Mitternachtsmädchen senkte den Kopf auf die Knie. Ihre schwarzen Haare verbargen vor ihren Augen die Szenerie des frühen Morgens: Müde Menschen, Berufspendler, ein paar Besoffene, die in der Nacht zuvor den Absprung nicht geschafft hatten – oder ihn nicht hatten schaffen wollten.

Der Zug wackelte hin und her und der Vorhang ihrer Haare wackelte hin und her. Ohne es zu sehen, wusste sie, dass draußen im Osten die Sonne über den tauglitzernden Feldern aufging, dass der Zug an kleinen Dörfern und Bauernhöfen vorbei fuhr. Sie sah nicht hin. Niemand sah hin.

Mitternachtsmädchen war müde. Der getrocknete Schweiß auf ihrer Haut klebte, der Pullover begann zu kratzen.

Noch ein, zwei Stunden, tröstete sich das Mitternachtsmädchen, dann kannst Du unter die Dusche und ins Bett.

Die Treppe, auf der sie saß, verjüngte sich nach oben hin und so musste sich jeder, der nach oben in die erste Klasse wollte, an ihr vorbei drängen.

So auch jetzt.

Ein blitzblanker, schwarzer Herrenschuh trat neben ihre Sneaker und sein Kumpel suchte sich vorsichtig seinen Weg zwischen ihrem rechten Bein und dem Edelstahlgeländer. Eine graue Stoffhose berührte ihre Schulter.

Sie sah auf.

Der Mann war vielleicht Anfang vierzig und er trug einen dunkelgrauen Anzug. Sein attraktives Gesicht war glatt rasiert und das eine oder andere Fältchen hatte sich bereits dort fest gesessen. Das Haar war kurz geschnitten und auch hier hatte die Zeit ein paar Härchen schon grau meliert. Ihre Blicke trafen sich. Er hatte große, freundliche blaue Augen.

Doch als er zu ihr hinunter sah, blitzte Gier in seinem Blick auf. Eine kleine, dreckige, billige Gier.

Mitternachtsmädchen legte wieder ihre Stirn auf die Knie.

Solche Blicke kannte Sie zur Genüge.

Dann hielt der Zug an. Sie kannte die Station: Ein kleiner Vororthalt.

In der Nähe des Bahnhofes gab es eine gemütliche Kaffeebude, fiel ihr ein. Kurz entschlossen stand das Mitternachtsmädchen auf und drängte sich durch die herein strömenden Fahrgäste. Die Protestlaute hörte sie kaum, als sie die kühle, saubere Morgenluft in sich einsog.

Den Zug nicht weiter beachtend, lief sie zum Ausgang.

Ihre Beine taten weh.

Aber das war nichts Neues.

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