Das Abteil war gut gefüllt, was nicht gerade zu Marias Beruhigung beitrug. Ihr gegenüber saß ein uralter Mann und schlief und sein Kopf wackelte bei jeder Bewegung des Zuges mit, als wolle er gleich abfallen. Er trug trotz der Sommerhitze ein dickes grünes Jackett und eine unangenehme Dunstwolke umgab ihn.
Neben ihm ein junges Ding, vielleicht gerade 18 Jahre alt. Es trug ein pinkfarbenes Top und so eine moderne, extrem kurze Hose. Die nackten Beine hatte sie übereinander geschlagen. So konnte man gut die tätowierte Rose an ihrer rechten Wade sehen.
Hübsche Beine hat sie ja, dachte Maria, aber den Tätowierer würde ich verklagen. Das Tattoo war nämlich äußerst schlecht ausgeführt. Die Farben überlappten sich und der eine oder andere Strich war offensichtlich daneben gegangen.
Maria kannte sich damit aus, denn ihr erster Mann hatte ein Tattoo-Studio betrieben. Ihre eigenen Tätowierungen verbarg sie hinter einer hoch geschlossenen, dünnen Bluse.
Der Platz neben Maria war frei. Dort lag eine Plastiktüte mit dem Blitzkind.
Ab und an griff Maria in die Tüte und fühlte nach ihm. Sie hatte es zusätzlich noch in eine dicke Folie eingeschweißt, mit einem Gerät, dass man normalerweise zum Vakuumverschweißen von Gefriergut benutzte. Sie hatten so etwas bei ihr auf der Firma und Maria blieb häufig so lange auf der Arbeit, dass sie das Gebäude zum Feierabend abschloss. So war es niemandem aufgefallen, dass sie ein mal unbeobachtet statt Schweinemett das Blitzkind eingeschweißt hatte.
Maria fasste das Blitzkind in seiner elastischen Hülle an. Es war warm. Genau so war es auch gewesen, als sie es gefunden hatte.
Es war sehr schwül gewesen und Marias Mann hatte mal wieder den ganzen Tag auf dem Sofa gelegen und geschnarcht. Die Wohnung stank vom Alkoholdunst und Schweißgeruch und da Lüften bei diesem Wetter sowieso nichts brachte, war Maria spazieren gegangen. Auf diese Weise war sie auch nicht dabei, wenn ihr Mann wieder aufwachte.
Sie kannte seine Laune, wenn er nüchtern war.
Maria konnte jetzt noch die drückende Hitze und den feinen Schweißfilm auf der Haut spüren. Sie lief ziellos durch die Stadt, während der Himmel sich langsam zuzog. Es würde ein Gewitter geben. Die Straßenlaternen gingen an, da es dunkel wurde. Der Weg lag vor Marias Füßen und sie folgte ihm.
Nach einer Weile, erste Regentropfen malten ein Leopardenmuster auf den Bürgersteig, kam sie in die Gegend hinter dem Hauptbahnhof. Hier hatte man die alten Plastikstühle schon nach drinnen geräumt in die Teestuben und Dönerbuden. Im- und Exportläden leuchteten in der aufkommenden Dunkelheit. Maria blieb kurz vor einem der Schaufenster stehen und starrte in die Auslagen. Ein Bild zeigte eine Landschaft mit einem Wasserfall und durch Lichteffekte sah das Wasser aus, als ob es wirklich fließen würde. Maria ging weiter, vorbei an Buddha-Statuen und Wasserpfeifen.
Maria lief und lief und die Läden und Imbisse wurden weniger. Irgendwann waren links und rechts nur noch Ziegelwände.
Ein Blitz flammte auf und direkt danach folgte ein mächtiges Krachen. Jetzt spülte ein Regenguss das Leopardenmuster fort und Maria suchte Schutz in einer Toreinfahrt. Die Luftfeuchtigkeit stieg dramatisch an und Maria hatte Mühe zu atmen.
Es wurde jetzt richtig dunkel. Immer mehr Blitze zuckten und das Wasser rauschte vom Himmel. Die Straße war jetzt eine einzige Pfütze und der Platzregen ließ die Tropfen tanzen.
Maria zog sich tiefer in die Toreinfahrt zurück, obwohl es hier stockfinster war. Müll lag auf dem Boden und dann war da dieser Geruch. Nicht der Geruch, den man an einem solchen Ort wie diesen hier erwarten würde. Er war irgendwie angenehm.
Maria ging weiter. Noch ein Blitz und dann noch einer, so als ob das Gewitter ihr den Weg beleuchten wolle.
Der Geruch wurde stärker. Er erinnerte Maria an die Küche ihrer Mutter. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen und kurz vor Weihnachten hatte sie mit Mutter Kekse gebacken. Die Glühbirne an der Decke hatte den Raum in ein gelbes, warmes Licht getaucht und Klein Maria war fasziniert davon gewesen, wie aus dem Mehl, dem Zucker und den Eiern solch wundervolle Dinge entstehen konnte. Mutter hatte eine Schürze getragen und Maria hatte den süssen Rest Teig aus der Schüssel schlecken dürfen.
Bis dann Vater nach Hause gekommen war und Schreie und Schnapsgeruch den schönen Moment zerstörten.
Ein Blitz und alles wurde weiß in der dunklen Einfahrt. Der Donner, der auf ihn folgte, traf Maria wie eine Ohrfeige.
Für einen kurzen Moment konnte sie nichts mehr sehen.
Erst waren da weiße Flecken vor ihren Augen, doch dann wurde es wieder dunkel und nur noch ein grüner Fleck spielte mit ihrer Netzhaut.
Maria schüttelte den Kopf und blinzelte und da bemerkte sie, dass das grüne Leuchten nicht von dem Blitz herrührte, sondern das da etwas auf dem Boden lag und ein ruhiges Licht ausstrahlte.
Maria ging darauf zu. Der wundervolle Geruch hatte sie ganz in den Bann gezogen. Er war so wundervoll, so warm und so lecker!
Da unten, halb unter einem vollen Müllsack verborgen, lag es!
Es war ein Klumpen aus einer grünen Masse und Maria liebte es vom ersten Augenblick an. Vorsichtig räumte sie den Müll vom Blitzkind und griff mit den Händen danach. Es war weich und warm und ein wenig feucht. Sie drückte es an ihre Brust und konnte ein leichtes Pulsieren spüren, dass aus dem Inneren des Blitzkindes kam.
Maria hatte an diesem Abend mehrfaches Glück:
Es war inzwischen Nacht geworden und der Regen prasselte weiter auf die Stadt ein und so bemerkte niemand Maria, wie sie, das Blitzkind in ihre Bluse eingewickelt, nach Hause lief. Dort angekommen, war ihr Mann nicht da. Vielleicht war er in der Kneipe, vielleicht war er bei einem seiner Saufkumpane, vielleicht lag er auch tot in irgendeinem Graben.
Maria war das einerlei. Sie legte das Blitzkind vorsichtig in eine Hefeteigschüssel und zog sich trockene Kleider an. Dann stopfte sie noch ein paar Dinge in einen Koffer und holte ihr Bargeld aus dem Versteck. Dann packte sie das Blitzkind in eine Einkaufstüte und band diese zu. Sie war sich sicher, dass es ihm nicht schaden würde und der Geruch, der sich jetzt auch in der Wohnung ausbreitete, war einfach zu auffällig.
Ausserdem war Maria eifersüchtig. Sie wollte nicht, dass andere Leute das Blitzkind lieben durften.
Dann nahm sich den Koffer und die Tüte und ging hinaus in die Nacht.
Maria schlug die Augen auf, als jemand die Abteiltür aufriss. Sie musste wohl eingenickt sein. Ein junger Schnösel stand in der Tür und schaute hinein. Er trug sein braunes Haar lang und sah auch sonst aus wie die Jugendausgabe von Winnetou. Nur sein feiner Anzug passte nicht ganz ins Bild. In der linken Hand hielt er eine Laptoptasche und mit der Rechten zeigte er auf den Platz neben Maria. Den Platz mit dem Blitzkind. Winnetou lächelte.
„Ist da noch frei?“ fragte er freundlich und das junge Mädchen setzte sich gerade hin und entwirrte ihre Beine. Es klatschte ganz leise, als sich ihre Schenkel berührten.
Eigentlich wollte Maria ja den Kopf schütteln, aber es lag wohl an ihrer Erziehung oder an ihren Männern oder an der Müdigkeit oder an etwas ganz anderem, aber sie nickte und machte sich daran, die Tüte mit dem Blitzkind auf ihren Schoß zu betten. Der Schnösel arbeitete sich nun an dem alten Mann und dem Schenkelmädchen vorbei und stand plötzlich schon vor Maria. Sie wurde hektisch und da geschah es:
Die Tüte entglitt Marias Händen und fiel zu Boden. Es gab ein merkwürdiges Geräusch, als die Kunststoffhülle um das Blitzkind riss und dann wurde das Abteil vom grünen Leuchten erfüllt und auch der Duft des Blitzkindes war wieder da.
„Nein! Nein!“ rief Maria doch, der junge Mann, der schöne, junge Mann kniete vor dem Blitzkind nieder. Das nette junge Mädchen mit den schönen Beinen hatte Tränen vor Rührung in den Augen und der alte Mann war aufgewacht und schaute nun lieb und neugierig wie ein kleines Kind.
Der Duft des Blitzkindes wurde stärker. Winnetou hielt es jetzt in beiden Händen und Maria war überhaupt nicht mehr eifersüchtig. Sie war auch aufgestanden und streichelte das Blitzkind. Mehr und mehr Menschen aus dem Zug standen von ihren Plätzen auf und versammelten sich vor ihrem Abteil. Alle schnupperten und waren mit einem Mal froh. Alle Sorgen und auch die Müdigkeit fiel von ihnen ab.
Der Geruch verbreitete sich weiter durch die halb geöffneten Fenster über die Stadt, über das Land, über die ganze Welt.