Kalmun der Ältere trat aus seiner Hütte und seufzte laut, als er seine alten Knochen in den Morgendunst streckte. Es war kalt geworden und die Nebel aus dem Tal hatten sich heute weit nach oben gewagt. Kalmun atmete tief ein und aus, dann ließ er die Schultern hängen.
Wieder ein Morgen.
Wieder ein Tag.
Es hörte wohl niemals auf.
Er drehte sich um und warf einen Blick in seine kleine, unordentliche Hütte. Hier war sonst niemand. Hier würde auch niemals jemand anderes sein als er, der alternde, einsame Mann, der am Rand des furchtbaren Tals lebte.
Einmal war hier ein Zauberer auf der Durchreise vorbeigekommen. Er hatte eine schwarze Robe getragen und sich darüber gewundert, dass Kalmun so gar keine Angst vor ihm gehabt hatte. Kalmun hatte damals schon vor nichts und niemandem mehr Angst gehabt. Kalmun hatte dem Mann einen Wurzeltee angeboten und dieser hatte den Trunk dankend angenommen. Während er den dampfenden Becher in seiner Hand betrachtet hatte, hatte der Zauberer ihm erzählt, dass sich hier unten im Tal der verzauberte Nebel wohl in den Zeiten des Übergangs angesammelt hatte.
Deswegen war das Tal anders als die anderen Täler in den Klippenbergen. Das Tal war verflucht und böse.
Trotz des Fluches hatte etwas Kalmun schon immer zu dem furchtbaren Tal gezogen. Als Kind war er gerne heimlich zu dessen Rand gelaufen und hatte von oben die drohenden Nebelschwaden betrachtet. Später hatte er dann seine Hütte hier oben gebaut und die Tochter des Schmiedes war dann – zu aller und besonders zu seiner eigenen Überraschung – zu ihm gezogen und hatte ihm einen Sohn geboren. Einen gesunden, kräftigen Jungen. Kalmun hatte ihn nach alter Sitte mit seinem eigenen Namen geehrt.
Doch jedes Glück hat seinen Preis!
Irgendwann, als Kalmun der Ältere beim Holzfällen war, war der kleine Kalmun ausgebüxt. Vielleicht hatte er sich vielleicht mit seiner Mutter gestritten, vielleicht war er auch einfach nur neugierig gewesen. Er war mit seinen kleinen Beinchen schnurstracks ins Tal gelaufen und im Nebel verschwunden. Yessa, seine hübsche Mutter, war ihm panisch hinterher gerannt. Auch sie hatte der Nebel verschluckt.
Als er von der Arbeit heimgekommen war, hatte er weder Frau noch Kind daheim vorgefunden. Die Spuren seiner Lieben hatten jedoch nach unten geführt. Noch mit der Axt in der Hand war er ebenfalls ins Tal hinunter gerannt, seine Frau und seinen Sohn immer wieder rufend.
Der Nebel hatte ihn umfangen wie eine tote Mutter ihr Kind umklammert. Kalmun konnte kaum ein paar Meter weit sehen, so dicht war der Nebel. Eine graue, trostlose Welt war das hier! In den wenigen Büschen und Bäumen hatten Flechten gehangen. Nur in den Birken nicht. Die Birken waren ganz kahl, ihre Stämme hatten nicht einmal Äste gehabt. Kalmun hatte sich jedoch nicht von all dem Grauen beirren lassen und er hatte seine Familie den ganzen Tag gesucht.
Erst, als das wenige Licht hier unten schon begonnen hatte zu verschwinden, hatte er ihre Überreste gefunden. Was immer sie auch erwischt hatte – es musste hart und grausam gewesen sein. Mutter und Kind waren förmlich zerdrückt worden – so sehr, dass er ihre Leichname nicht einmal in den Arm hatte nehmen können.
Kalmun der Ältere hatte eine rasende Wut in sich gespürt. Er hatte seine Axt erhoben und blind vor Zorn auf eine der nahen Birken eingeschlagen. Als dann plötzlich Blut spritzte, wurde ihm bewusst, dass diese weißen, langen Dinger hier unten im Tal keine Birken waren.
Für einen kurzen Moment waren Wut und Trauer wie fortgeblasen gewesen, als ihn die Erkenntnis getroffen hatte: Das waren keine Bäume! Das waren Finger!
Erst hatte der Ekel Kalmun übermannen wollen, doch der Gedanke an seine Frau und seinen kleinen Sohn hatte ihm neue Kraft gegeben und er hatte den Finger gefällt. Wie eine Trophäe hatte er – über und über mit Blut bedeckt – den abgehackten Fingerstamm aus dem Tal nach oben getragen.
Es hatte eine Weile gedauert, bis Kalmun herausgefunden hatte, dass die Knochen in den Fingern eine ganze Menge Geld wert waren. Irgendwann kam sogar ein Händler extra aus Tolchin, um ihm die Knochen für ein gutes Geld abzukaufen.
Kalmun ging nicht oft nach unten in das furchtbare Tal. Nur, wenn die Zeit wiederkehrte, in welcher der Händler ihr kleines, unwichtiges Dorf in den Klippenbergen besuchen würde, machte er sich auf, um einen weiteren der verfluchten Finger zu fällen.
Den Knochen befreite er dann von seinem Fleisch. Das Fleisch verbrannte er. Was mit dem Knochen geschah, kümmerte Kalmun nicht. Sicher hatte es was mit den Zauberern in Lischan zu tun. Die hatten sicher Verwendung dafür.
Kalmun der Altere bückte sich und hob seine treue Holzfälleraxt auf, die neben ihm am Eingang der Hütte lehnte. Er seufzte noch einmal. Auf dem Weg nach unten ins furchtbare Tal würde er auch am Grab von Yessa und Kalmun dem Jüngeren vorbeikommen. Das war ein friedlicher Ort. Jetzt im Frühling wuchsen dort sogar ein paar Blumen.
Eine seltsame Ruhe überkam Kalmun. Eines Tages würde er bei den beiden unter der Erde liegen und dieser Tag war nicht mehr fern, das konnte er spüren.
Kalmuns Schritte waren erst zaghaft, dann wurden sie immer kräftiger. Die Axt auf der Schulter tragend, hätte er sogar beinahe ein Liedchen gepfiffen.
Wo das Leid ist, darf auch ein wenig Glück sein.
6 Antworten
Boah, toll geschrieben! Ich war sofort in der Welt drin. Die Hütte war die, die ich in Robert Seethalers „Ein ganzes Leben“ erdacht habe, und der Nebel war der aus „Die Karte der Welt“ von Royce Buckingham.
Danke! Das freut mich sehr!
Die Kurzgeschichte spielt übrigens in der selben Welt, in der auch mein Roman spielt. Der Nebel ist in der Tat etwas ganz Besonderes (wird natürlich nicht verraten).
Wann ist der Roman eigentlich käuflich zu erwerben?
Ich bin ja noch im ersten Durchgang. Mit Lektorat usw. wird es sicher noch bis zu einem Jahr dauern.
Okay, du wirst ihn dann ja sicher bewerben. Bin gespannt!
Das werde ich auf jeden Fall. Wenn der Roman erschienen ist, erscheinen hier im Blog vielleicht auch noch Geschichten, welche die Hauptstory noch ein wenig weiter erzählen.