Kieselblog

Flusskiesels Tagebuch

Das Opfer

In dieser Geschichte gibt es viel Leid und Tod, auch den eines kleinen Kindes kommt vor. Falls Euch solche Themen zu sehr belasten, sollet Ihr sie vielleicht besser nicht lesen.

Staub und Asche. Die Welt war nur noch Staub und Asche.

Wühler hustete und spuckte, um wenigstens ein wenig von dem Staub aus dem Mund zu bekommen, der die Luft erfüllte. Dann machte er sich weiter an den Aufstieg.

Jetzt, kurz vor dem Ende, bekamen seine Gedanken eine Klarheit, wie sie seit dem Zusammenbruch nicht mehr da gewesen war. Er fühlte seinen Körper nun viel deutlicher und das erfreute ihn, auch wenn das meiste, was er empfand, Hunger, Schmerz und Durst war.

Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen und versuchte, diesen Moment auszunutzen und sich an die Zeit vor dem Zusammenbruch zu erinnern. Doch das misslang ihm. Das Einzige, was ihm in den Sinn kam, waren die Farben. Alles war farbig gewesen! Bunt und fröhlich! Es musste eine fröhliche Zeit gewesen sein mit all den Farben! Vielleicht waren die Frau und das Kind auch dabei gewesen in all dieser Fröhlichkeit. Zumindest waren sie nach dem Zusammenbruch gemeinsam aus den Trümmern gekrochen und das konnte nur bedeuten, dass sie auch vorher zusammen gewesen waren. Das Kind war aber dann schnell gestorben und die Frau hatte seitdem nur noch apathisch da gehockt, den Leichnam des Kleinen in den Armen.

Wühler war dann weggegangen.

Die anderen Überlebenden, mit denen sich Wühler zusammengetan hatte, waren dann auch nach und nach gestorben. Einige waren verdurstet, andere in den überraschend kalten Nächten erfroren. Viele jedoch hatten die Schatten geholt, die jede Nacht kamen und Jagd auf die Menschen machten. Niemand wusste, wer oder was die Schatten waren, aber sie hatten vielerlei Gestalten: Manche waren groß, manche waren klein. Sie hatten zwei, drei oder mehr Beine, viele Zähne oder keine – was aber alle gemeinsam hatten, war ein gewaltiger Hunger auf Menschenfleisch. Wühler hatte sich abends immer möglichst einen Schlafplatz unter irgendwelchen Trümmern gesucht und dort eingegraben. So war er auch zu seinem Namen gekommen. Die Menschen hatten jetzt nur noch Namen, die sie sich nach dem Zusammenbruch selber oder gegenseitig gegeben hatten, denn niemand erinnerte sich mehr daran, wie er vorher geheißen hatte.

Einige Zeit nach dem Zusammenbruch – Wühler war mit drei Männern und einer Frau zusammen gewesen, welche sie sich untereinander abwechselnd teilten – war am Boden ein dichter Nebel aufgetaucht. Der Nebel war angestiegen wie als wenn es Wasser gewesen wäre. Dabei hatte er in ihren Köpfen gesummt. Wie eine Flut, die singt. Also hatten sie versucht, auf höher gelegenes Gelände zu kommen.

Auf dem Weg dorthin hatte sie dann etwas erwischt, was viel schlimmer war als die Wesen aus den Schatten oder der singende Nebel: Das Ding war am Himmel erschienen und sofort war alles Licht verschwunden. Wenn das Ding auftauchte, hatte es keinen Sinn zu fliehen. Die einzige Möglichkeit, die einem blieb, war sich einen Unterschlupf zu suchen und das Beste zu hoffen. Als es dann wo weit war, war Wühler sofort unter eine umgekippte Mauer gekrochen und hatte zu graben begonnen. Die anderen Männer jedoch hatten sich angeschrien und an der Frau gezerrt. Sie hatten wohl weglaufen wollen, ohne sich über die Richtung einigen zu können. Niemand von ihnen aber hatte die Frau aufgeben wollen, weil sie doch so weich war. Wühler hatte einfach weiter gegraben, denn er hatte gewusst, dass nach der Dunkelheit das Feuer kommen würde. Als sich der Himmel schon rot gefärbt hatte, war die Frau plötzlich am Eingang seiner Höhle erschienen und hatte versucht, zu ihm ins Loch zu kriechen. Sie hatte mit den Armen nach Wühler gegriffen und zog sich näher an ihn heran. Doch sie war nicht schnell genug gewesen. Schlagartig war es unerträglich heiß geworden und die Frau hatte den Mund weit aufgerissen. Ihr Schreien hatte Wühler aber nicht hören können, denn ein gewaltiges Brüllen hatte die Erde erzittern lassen. Dann waren die Arme der Frau erschlafft und Wühler hatte lang in ihre toten Augen geschaut.

Wahrscheinlich hatte die Frau ihm das Leben gerettet indem sie mit ihrem Körper den Eingang blockiert hatte. Die Hitze hatte alles draußen aufgefressen, auch die Männer und den Unterleib der Frau.

Es hatte lange gedauert, bis sich der Erdboden so weit abgekühlt hatte, dass Wühler den Leichnam der Frau von sich fortschieben und sein Versteck hatte verlassen können.

Irgendwann hatte Wühler wieder Leute getroffen und diese Leute hatten wieder andere Leute getroffen. Sie waren in einer immer größeren Gruppe weiter nach oben gezogen, fort von dem unheimlichen Nebel, der immer mehr von der Landschaft verschlungen hatte. Sicher hatten sie hin und wieder ein paar von den Schwächeren und manchmal auch welche von den Stärkeren verloren, aber es waren immer wieder neue Menschen dazu gekommen. Eine immer größere Menge zerlumpter Leute ohne Namen war irgendwann am Berg angekommen.

Am Berg hatte die Großen sie in Empfang genommen und hatten so etwas wie Sicherheit organisiert. Nachts hielten die Großen die Schattenwesen fern und selbst das Feuer des Dings hatte hier nur wenig Macht. Wühler hatte sich einem Trupp angeschlossen, der in den Trümmern nach Essbarem gesucht hatte und wenn sie nichts Essbares hatten finden können, hatten sie sich auch nach Essbaren umgeschaut.

Allerdings hatte die zerbrechliche Sicherheit auf dem Berg auch ihren Preis. Die Großen brauchten die Lebenskraft von Menschen, um die Schattenwesen zu vertreiben und vor allen Dingen, die Angriffe des Dings abzuwehren. Zu Beginn hatten sie einfach die Schwächsten unter den Menschen ausgesucht und ihnen die Lebenskraft genommen. Darunter waren meist Kinder und Alte. Doch es wurden immer mehr Menschen gebraucht, denn die Angriffe des Dings wurden immer stärker und wütender. Es war zu Auseinandersetzungen und Gewalt auf dem Berg gekommen. Irgendwann hatten die Großen dann einfach selber entschieden, wer jetzt zu ihnen kommen sollte und wer später. Niemand wagte es, zu widersprechen.

Eines trüben grauen Morgens hatte es Asche geregnet und mit einem Mal war für Wühler alles ganz einfach gewesen. Er war aufgestanden, hatte seine Ration Wasser in einem Zug ausgetrunken und war dann losgegangen zur Spitze des Berges, wo die Großen sich bei der Verteidigung abwechselten.

Es war ganz einfach. Es war ganz klar. Heute würde es enden: Der Schmerz, der Hunger, der Durst, die Angst. Alles wäre vorbei. Nichts war mehr wichtig. Immer wieder schoben sich die leeren Augen der Frau mit ihrem toten Kind im Schoß vor die seinen, gefolgt von dem entsetzten Blick der anderen Frau, als ihre untere Hälfte verbrannte, aber es berührte ihn überhaupt nicht mehr.

Wühler erreichte die Spitze des Berges. Hier standen die Großen beisammen und um sie herum lagen haufenweise tote Körper. Die Großen mochten einmal so wie Wühler gewesen sein, doch jetzt sahen selbst die Leichen zu ihren Füßen menschlicher aus als sie. Keiner der Großen hatte noch Haare, sie wirkten wie Trockenfleisch, das man in Roben gewickelt hatte.

Wühler spürte gierige Blicke auf sich. Er ließ sich auf die Knie sinken und breitete die Arme aus.

Etwas begann, an seinem Innersten zu ziehen. Der Zug wurde stärker, wurde zu einem Reißen.

Dann ging es auf einmal ganz schnell.

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