Aus dem Archiv: Mondschein

Ich wanderte durch die Säle der Toten, als mich die Nachricht erreichte. Die Säle waren trotz alle der Jahrhunderte immer noch schön anzuschauen. Die Teppiche an den Wänden waren nur wenig ausgebleicht und die bunten Glasfenster ließen auch jetzt noch genügend Licht hindurch, dass man zur Mittagszeit die wundervollen Deckenmalereien bewundern konnte.

Die Tische hatte man beiseite geräumt – die Tische, an denen die Menschen gesessen und geschmaust hatten, als die Realität einen Riss bekommen hatte. Niemand wusste warum, aber die speisenden Menschen waren alle auf der Stelle gestorben und ihr Köpfe waren auf die Teller gesunken. Sie hatten alle dagesessen und gelegen, als ob sie plötzlich eingeschlafen wären: Männer, Frauen, Kinder.

Das war nun hundert Jahre her und nun ging ich durch die Säle auf der Suche nach irgend etwas und mein treuer Stab stanzte kleine, runde Löcher in den Staub.

Da hörte ich ein Geräusch und hielt inne. Das Geräusch war ein Flattern und es kam von vorne:

Ein kleiner Vogel flog da auf mich zu. Ich erkannte ihn: Es war ein Botensittich, grau und schwarz gesprenkelt. Ich blieb ganz still stehen, während er mich umkreiste. Dann setzte er sich auf meine rechte Schulter und flüsterte mir ins Ohr:

„Mondkind! Krank! Sofort kommen!“

Mondkind!

Die kleine Mondkind!

Ich scheuchte den Vogel weg und machte mich auf den Weg. Eine Antwort brauchte ich dem Sittich nicht mit auf den Weg zu geben, denn ich wäre sicher schneller bei der Burg der Kleinen Leute als dieser Vogel, denn ich kenne auch die leisen Wege.

Nicht lange nachdem mich die Nachricht von Mondkinds Krankheit erreicht hatte, stand ich vor dem Burgtor der Kleinen Leute. Die Burg der Kleinen Leute darf man sich nicht wie eine Burg der frühen Menschen aus der Zeit vor dem Riss vorstellen: Sie hatte keine Zinnen und Türme, keinen Wassergraben und dicken Mauern. Sie hatte eine Tür aus altem Beton und Moos und ihre Schießscharten waren gut getarnt im ganzen Wald verstreut.

Ich brauchte nicht an der Tür zu klopfen, denn man hatte mein Kommen längst bemerkt.

Die Wachen reichten mir kaum bis zum Bauch, doch die Spieße und Armbrüste, mit denen sie bewaffnet waren, flößten durchaus Respekt ein. Gerüstet waren sie hauptsächlich in Leder; es war wenig Metall an ihnen.

Der Hauptmann trug eine Krone aus Birkenholz auf dem Kopf und er fragte nach meinem Begehr. Ich sagte ihm, man habe mich zu einer Kranken gerufen. Als ich ihm ihren Namen nannte, verzog sich sein Gesicht schmerzvoll. Hätte mich die dringende Nachricht durch einen kostbaren Botensittich nicht schon das Schlimmste befürchten lassen, so hätte ich spätestens beim Anblick des Hauptmannes gewusst, wie schlimm es um das Mädchen stand.

Der Hauptmann selbst führte mich direkt zu ihr. Obwohl die Gänge durch die Burg niedrig und eng waren, musste ich mich nicht bücken. Wenn die Kleinen Leute es wollen, kann man sich in ihrer Festung bewegen wie in einem Tanzsaal.

In Abzweigungen zu anderen Gängen oder offenen Türen zu beiden Seiten standen Bewohner der Bug und sahen uns zu.

Ich konnte Angst in ihren Augen sehen. Angst und Wut. Ein Geruch von Blut und Gewalt lag in der Luft.

Hier musste etwas Schlimmes geschehen sein.

Wir bogen links ab, wir bogen rechts ab, wir gingen geradeaus. Wir gingen durch Gänge aus Holz, Erde und Steine. Wurzeln drangen durch die Decke, wanden sich über den Boden. Immer wieder machte der Weg eine scharfe Biegung, an deren Ende eine Schießscharte war aus der uns aufmerksam Augen musterten. Irgendwann gelangten wir zu einer kleinen Tür, vor der zwei Wachposten standen. Der Hauptmann machte ein Zeichen mit der Hand und eine der Wachen öffnete die Tür. Dann bedeutete er mir, einzutreten. Ich trat ein, er selbst blieb im Gang stehen. Ich drehte mich noch zu ihm, da schlug schon eine Welle von Blut und Tod und Angst um mich zusammen. Ich roch das Kind, ich roch einen bösen Fluch.

Ich wankte und stützte mich auf meinen treuen Stab.

„Ich werde Euch nachher zur Herrin unter dem Wald bringen.“ sagte der Hauptmann und schloss die Tür.

Langsam fing ich mich wieder und sah mich um. Ich befand mich in einer bescheidenen Kammer, in deren Mitte ein kleines Bett stand. Ein Kinderbett.

Als ich das kleine, verschrumpelte Mädchen in den Laken sah, brach mir fast das Herz und ich wusste, was geschehen war:

Jemand war in die Burg eingedrungen, mit Zähnen und Klauen. Hatte sich durch die Wachen vorgekämpft. Geschrien hatte man, man hatte sich gewehrt. Doch gegen dieses Wesen halfen Spieße und Bolzen nicht. Eine Blutspur hinter sich herziehend, hatte das Wesen das Zimmer des Mädchens erreicht, doch anstatt es zu töten, hatte es etwas anderes mit dem Kind gemacht.

Es hatte es verflucht.

Ich zog die Decke zurück und wieder musste ich mich an auf meinen Stab stützen.

Das Mädchen schlief. Kleines Mondkind! Süsses Mondkind! Was einst ein kräftiges, fröhliches Mädchen gewesen war, war jetzt ein vertrocknetes, faltiges Ding, wie ein Apfel, der für einen langen Winter in der Sonne gedörrt worden war.

Ich atmete tief aus und wieder ein. Atmete diese Luft ein voller Krankheit und Zerfall.

Vorsichtig griff ich unter Mondkind und hob sie hoch. Sie war leicht wie Stroh und ich hatte das Gefühl, ich hätte sie ebenso leicht wie Stroh knicken können, wenn ich gewollt hätte. Sie röchelte und ihr Atem wurde hastig und unregelmässig, aber sie wurde aber nicht wach.

Wer tat so etwas?

Ich musste ihr helfen! Den Fluch konnte ich noch nicht von ihr nehmen, doch ich konnte ihr wieder etwas von ihrem Leben zurückgeben.

Doch wer würde sie für mich halten, während ich meine Lebenskraft mit ihr teilen würde?

Für einen Moment dachte ich an den Hauptmann vor der Tür, doch dann entschied ich mich anders.

Ich legte Mondkind in meine linke Armbeuge. Dann streckte ich meinen treuen Stab auf eine Armeslänge von mir weg und sprach seinen wahren Namen.

Die Menschen stellen sich immer vor, Magie würde mit glitzernden Funken, Sternen oder Rauch und Feuer geschehen. Nichts falscher als das.

Es dauerte nur einen Wimpernschlag und der Stab war verschwunden. Stattdessen stand dort ein junger Mann. Er trug einen dunklen, kurzen Bart und obwohl um seinen Mund ein spöttischer Zug lag, schauten mich seine dunklen Augen freundlich an.

Ich gab ihm das Kind und er nahm es. Er sah zu dem Kind in seinen Armen hinunter, doch man konnte nicht erkennen, was er bei dem Anblick des kranken Wurms empfand.

Ich legte Mondschein meine beiden Hände auf das Köpfchen. Es war so klein, dass ich es auch genauso gut hätte umfassen können.

Dann versank ich in mein Inneres und sammelte die Kraft ein, die um mich herum in der Luft lag. Dann griff ich nach der Quelle, die tief in mir liegt und noch mehr Kraft strömte zusammen.

Diese Kraft ließ ich durch meine Arme, meine Hände in den Körper von Mondschein fließen.

Erst zeigte sich keine Wirkung, aber nach nur kurzer Zeit schien sie wieder zu wachsen und die runzelige Haut glättete sich ein wenig. Sie atmete ruhiger.

Auf mein Kopfnicken legte mein treuer Freund das Kindchen wieder auf das Bett und ich deckte es zu.

Erst dann fiel mir auf, dass ich während der ganzen Prozedur die Luft angehalten hatte und atmete nun laut aus.

Ich sah meinen Freund an.

„Dann lass und nun zur Herrin unter dem Wald gehen.“ sagte ich.