Aus dem Archiv: Mein Freund, der Baum

Johannes breitete die Arme aus.

Er hatte es geschafft!

Die Vögel zogen singend über ihn hinweg und das Gras kitzelte seine nackten Füße. Lachend lief Johannes los und fast war es ihm, als könne er Fliegen. Sein Haupthaar wehte im Sommerwind, nur durch ein schmales Lederbändchen gehalten.

Johannes hatte es geschafft!

Gerade eben, kurz vor Ende seines dritten Naturerfahrungskurses der VHS Duisburg (Buchungsnummer 834-103, 123,- Euro, bitte Decke mitbringen) hatte er diese Verbindung gespürt, die nach ganz, ganz weit drinnen ging. Etwas tief in ihm hatte zu Blühen begonnen und er hatte alle seine Ängste, all seine schlechten Gefühle ablegen können. Seine Aggressionen seinem Chef und den Kolleginnen in der Geschäftsstelle gegenüber waren wie weggeblasen. Johannes war eins mit der Welt und diese Welt war voller Liebe!

Wie ein Kind blieb er vor einer alten Buche stehen. Sie war sehr dick und ihre Äste spannten sich wie ein Dach über Johannes. Die Rinde der Buche sah grau und glatt aus und Johannes spürte, dass auch aus diesem Baum die Liebe sprach.

Also ging er noch die letzten paar Schritte auf ihn zu und umarmte seinen neuen Freund. Die Augen geschlossen, spürte Johannes das Leben von Bruder Baum. Er stellte sich vor, selbst der Baum zu sein. Er fühlte, wie seine Füße sich in den Boden gruben. Seine Finger streckten sich in den Himmel und an ihren Kuppen wuchsen grüne Blätter. Der Wind, der gute Wind, strich durch sie hindurch.

Johannes war voller Frieden.

So musste ein Baum fühlen!

Glück durchströmte den Baum und spülte auch Johannes’ Herz ganz rein.

Doch plötzlich war da auch ein erleichtertes Seufzen. Es musste vom Baum kommen! Der Baum sprach!

„Erlöst!“ sagte die Stimme und dann war Johannes mit einem Mal allein.

Die gute Stimmung war wie weggeblasen und Johannes wollte den Baum loslassen, doch das war nicht möglich – zum einen, weil der Baum nicht mehr an der Stelle zwischen seinen Armen stand und zum anderen, weil Johannes sich nicht mehr bewegen konnte. Er stand da wie gelähmt, nicht einmal seine Augen konnte er öffnen!

Was war passiert?

Seine Beine waren wie zusammengewachsen und seine Zehen schienen sich in ein dichtes, kaltes Geflecht verwandelt zu haben und auch der Wind wurde langsam unangenehm frisch in den Zweigen. Panik brandete in Johannes auf, flutete durch ihn hindurch, verschwand aber so schnell wieder, wie sie gekommen war.

Er wurde ganz ruhig.

Die anderen Kursteilnehmer des Naturerfahrungskurses der VHS Duisburg wunderten sich, wo denn der Teilnehmer Johannes Flachgeber abgeblieben war, aber sie machten sich darüber keine weiteren Gedanken. Vielleicht hatte er ja einen Arzttermin oder so.

Auch fiel Niemandem auf, dass die eine Buche auf der Wiese jetzt ganz anders aussah als am Morgen.

Johannes bekam Durst und mit seinen Füßen trank er aus der Erde frisches, gutes Wasser.

Ja, der Wind wurde allmählich kälter. Der Herbst würde kommen und nach ihm die starre Zeit.

Irgendwoher wusste er, dass er eigentlich etwas ganz anderes tun sollte, aber jetzt freute er sich einfach nur auf den Winter und seinen langen, tiefen Schlaf.