Der staubige Weg, auf dem ich gehe, steigt langsam an – und da sehe ich mir vor mir schon mein Ziel:
Den Knochenberg.
Der Aufstieg ist lang und schwer. Immer wieder brechen Schädel und Gebeine unter meinem Gewicht, ich laufe Gefahr, in die scharfen Rippen oder die geborstenen Beinknochen zu fallen.
Doch alles geht gut.
Oben angekommen, bleibe ich stehen. Auch der Tempel des Totengottes ist aus Knochen erbaut. Nicht alle sind alt und blank, an vielen hängt noch das faulige Fleisch. Der Himmel um mich herum ist schwarz. Fliegen summen in der Leere.
Die Wächter vor dem Tore jedoch sind vollkommen skelettiert. Sie tragen schwere Rüstungen und Lanzen mit breiten Klingen.
Sie sehen mich mit ihren Augenhöhlen an, als ich sie passiere.
Drinnen wabern Dampf und Gestank. Maden bedecken den Boden.
Ich trete vorsichtig auf und sehe nicht nach unten. Ganz dunkel ist es hier im Tempel. Nur in der Mitte erhellt ein Strahl kalten Lichts einen beinernen Thron.
Auf ihm sitzt der Gott der Toten.
Anubis.
Sein Fell glänzt, wo es nicht von Binden bedeckt ist, sein Hundekopf ist starr, sein Blick auf mich unbeweglich. Die Augen sind gelb.
Ich bleibe vor ihm stehen, verbeuge mich leicht.
Zum ersten Mal bin ich ratlos. Was soll ich jetzt tun?
Am besten ist es, ich lasse dem Gott das erste Wort.
Ja, das scheint das Beste zu sein.
Doch er spricht nicht.
Der Gott schweigt.
Ich werde nervös.
Noch einige Minuten quält mich Anubis mit seinem Schweigen und bewegt sich nicht. Fast hätte er ein Präparat vom Abdecker sein können.
Doch dann kommt Bewegung in seinen großen Körper: Er neigt den Kopf zur Seite. Seine Lefzen ziehen sich zurück und gelbe Zähne kommen zum Vorschein.
Lächelt er?
“Willkommen.” Anubis’ Stimme kriecht durch den Raum, die Maden kringeln sich panisch in die Ecken.
Der Boden ist jetzt ganz blank.
Bein liegt eng an Bein.
“Willkommen in meinem Reich.”
Ich neige demütig den Kopf. Anubis spricht weiter.
“Nun bist Du doch zu mir gekommen. Ihr kommt alle zu mir.” Er lacht, es klingt wie ein leises, heiseres Bellen “Am Ende kommt ihr alle.”
Meine rechte Hand ist irgendwie in die Manteltasche gewandert. Sie fingert nach der Münze. Der Münze für den Heimweg.
Ich bekomme Angst.
Anubis lacht wieder.
Ich schüttele den Kopf. Ich reiße mich zusammen, rufe mir wieder den Grund für mein Kommen ins Gedächtnis zurück.
Sie!
Ich muss sie finden!
Doch bevor ich etwas sagen kann, fährt mir Anubis über den Mund.
“Schweig, wenn ein Gott spricht!” befiehlt er knurrend und ich gehorche.
“Ich weiß was Du suchst,” verdutzt schaue ich auf, begegne dem Blick des Anubis. Er geht über diese Anmaßung hinweg und spricht weiter. Süß und spöttelnd klingt er jetzt:
“Ich weiß was – wen – Du suchst, aber sie ist nicht hier. Ich habe sie nicht.”
Mir bricht der Schweiß aus.
Wo ist sie?
Nicht hier?
Wo kann sie sonst sein?
Ich schüttele den Kopf. Ich verstehe nicht.
Wieder lacht der Totengott.
“Sie ist nicht tot. Aber ich weiß wo sie ist.”
Er beugt sich vor. Obwohl er eigentlich viel zu weit weg ist, ist seine Schnauze jetzt ganz nah bei mir. Ich rieche den muffigen Geruch alter Leichenbinden.
Anubis flüstert.
Er schlägt mir ein Geschäft vor.
Als er mir seine Bedingung nennt, stockt mir der Atem.
Aber was soll ich machen?
Ich habe keine andere Wahl.
Ich stimme zu.
Beim Herausgehen werfe ich die Münze fort, das Lachen des Totengottes hängt mir noch lange in den Ohren.