Aus dem Archiv: Das Ei

Da lag es nun. Das Ei. Barney schaute mich erwartungsvoll an. Auf der Stirn unter seinen kurzen, blonden Haaren hatten sich ein paar Schweißperlen gebildet. Ich schaute von Barney zum Ei und vom Ei zu Barney. Was sollte ich jetzt tun?

„Nun, da ist es!“ sagte Barney.

Nein, ich konnte nicht. „Nein Barney, ich kann nicht!“ sagte ich.
Barney runzelte die Stirn. Wenn er das tat, mochte ich das eigentlich immer sehr.
,,Warum nicht? Du hattest doch einen solchen Hunger! Nimm das Ei – Du kannst es Dir Kochen. Oder mach‘ einfach ein Spiegelei. Es ist völlig in Ordnung – und frischer geht es nicht mehr!“
Er lachte freundlich und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Er rutschte ein bisschen hin und her, so als ob ihm sein Hintern wehtat.

Ja, natürlich hatte ich ziemlichen Hunger gehabt – aber ich hatte doch nie daran gedacht, eines von Barneys Eiern zu essen! Ich hatte nur einmal über meinen leeren, knurrenden Magen gejammert und schon hatte Barney sich hingehockt und ein Ei gelegt. Ein richtiges, rundes Ei!

Ich glaube, ich muss jetzt etwas erklären:

Seit dieser schlimmen Nervenkrankheit und der Therapie mit diesen Hühnergenen konnte Barney nämlich tatsächlich Eier legen und war auch sonst ein bisschen seltsam geworden. Natürlich waren wir alle froh, dass er wieder gesund war, aber er war so – anders.

Ich konnte das Ei nicht einfach aufessen – nicht ein Ei von Barney. Nicht so ein Ding, dass in ihm gewachsen war und das er dann aus seinem After gedrückt hatte! Es ging einfach nicht!
„Ich kann das Ei nicht essen. Das geht einfach nicht!“ sagte ich zu Barney.
,,Warum?“ fragte er und seine Stirn zerfurchte sich in tiefe Schluchten. Seine Augen waren auf einmal ganz groß. Auch das sah ich normalerweise gern.
,,Das Ei ist ganz frisch – und meine Eier sind lebensmittelchemisch mit Hühnereiern völlig identisch. Sie sind nur ein bisschen größer als normal. Greif‘ zu!“

„Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht …“ brabbelte es aus meinem Mund. Barney ließ nicht locker – er schien mich wirklich von der Qualität seines „Produktes“ überzeugen zu wollen: „Du wirst keinen Unterschied schmecken! Oder liegt es etwa an mir?“

Was sollte ich darauf anderes antworten als ein „Nein, Barney! An Dir liegt es natürlich nicht! Es ist nur … es ist nur …“ Barney hakte nach: „Oder ekelst Du Dich vor dem Ei, weil es bei mir ganz unten rauskam? Aber das ist doch genau wie bei jedem anderen Huhn! Und da ist ja noch die Schale drum – hygienisch also einwandfrei!“

Mein Blick wanderte von Barneys Gesicht hinunter zum Ei. Es hatte eine hellbraune Färbung, wirklich wie ein ganz normales Hühnerei. Es lag da und schien zu warten. Ich schaute wieder auf. Barney sah mir in die Augen. Seine Augen waren blau und klar. Nicht wie die eines Huhns. Er erwartete eine Antwort.

Ich traf eine Entscheidung. „Ist gut!“ seufzte ich. „Könntest Du es bitte für mich in die Pfanne hauen? Ein Spiegelei wäre jetzt super“. Mein Lachen sollte fröhlich und entspannt wirken – tat es aber nicht.
Aus Barneys Mund kam ein kleiner Triumphschrei. Er griff sich das Ei und lief schnell in die Küche. Ich saß wohl noch ein paar Minuten einfach da und schaute vor mich hin. Ich hörte Barney am Herd hantieren und er pfiff ein Liedchen, als das Ei in der heißen Butter zischte.

Da musste ich jetzt wohl durch.