Erlösung am Hauptbahnhof

Am Hauptbahnhof versammeln sie sich: Die Geschlagenen, die Getriebenen, die Süchtigen. Sie trinken Bier und Schnaps und süßen Wein aus Tetra-Packs. Sie liegen im Eingang und versuchen zu schlafen. Sie streiten sich um betrunkene Frauen. Einige haben den Absprung aus der letzten Nacht nicht geschafft und sind nur noch müde. Eine junge Frau trägt eine bunte Decke um die Schulter wie eine Trophähe.

Viele werden von ihnen werden von Dämonen verfolgt und gequält. Verzweifelt schreien sie gegen die Gemeinheiten und Forderungen an, die in ihren Köpfen ausgesprochen werden. Sie laufen viel hin und her und manchmal brüllen sie so laut, dass die jungen Mädchen an der Straßenbahnhaltestelle vor Schreck zusammenzucken und lieber weiter gehen.

Doch alle streben nun an einen bestimmten Punkt. Manche gehen direkt und zielstrebig dort hin, manche drücken sich erst hier, dann dort herum, ziehen immer enger werdende konzentrische Kreise um diesen einen Ort am Hinterausgang. Dort, wo sonst nur die Taxifahrer hektisch vor ihren Smartphones masturbieren und sich vielleicht mal ein Junkie einen Schuss drückt, steht seit neuestem er.

Er trägt ein schmuddeliges Gewand. Seine Haare sind lang und braun und ein dünner Bart umrankt ein sanftes Lächeln. Er steht hinter der einen Betonsäule mitten in einer Lache aus Urin. Diese Hinterlassenschaft eines Junggesellenabschieds aus Mettmann stört ihn nicht. Ihn stören nicht der Gestank oder die Abgase. Ihm machen auch die bösen Blicke der Geschäftsleute nichts aus, welche hastig vorübereilen, die Aktenkoffer angstvoll fest im Griff.

Er wendet seine ganze Aufmerksamkeit den Menschen zu, die zu ihm kommen: Die Zerstörten, von Leid und Krankheit Zerfressenen. Die Einsamen. Die verzweifelt Betrunkenen.

Jeden von ihnen sieht er freundlich an und alleine sein Lächeln genügt, ein gebrochenes Herz zu heilen oder einer Seele Frieden zu geben. Bauspeicheldrüsen arbeiten wieder normal und so manche Leber erlebt ihren zweiten oder dritten Frühling.

Die Menschen, die zu ihm kommen, sind gebrochen – von ihm fort gehen sie gerade und gesundet.