Sie legten am späten Nachmittag im kleinen Hafen der Totenstadt an, wo ihr Onkel sie mit seinen Leuten bereits erwartete. Ein paar Sang, das Dienervolk der Hymren, halfen ihnen beim Festmachen des Bootes und trugen ihr Gepäck von Bord, argwöhnisch von allen beobachtet. Sang gelten als diebisch und faul. Onkel half Catherine beim Austeigen und nahm sie, William und John in den Arm. Er war ein herzlicher Mann. Ob Lord Laren auch so freundlich sein würde?
Der Onkel war nur wenig größer als William und der hatte einen kräftigen Rumpf, der auf zu kurzen Beinen saß. In seinem roten Gesicht prangte ein großer Schnäuzer, schon grau – ganz im Gegensatz zu seinem blonden, struppigen Haupthaar.
Während William dem Onkel erzählte, was er als Page alles erlebt hatte, bestaunte John die Totenstadt. Obwohl der Hafen mit seinen kleinen Gebäuden durch eine hohe Mauer von der Stadt abgetrennt war, konnte man dahinter die Dächer großer Häuser erkennen. Auch einige Türme stießen in den Himmel. John staunte, denn diese Türme waren größer als die ihrer Burg zu Hause!
Auf dem Kai war ausser ihnen, Onkels Hauskerlen und einigen Sang niemand zu sehen. Es war auch seltsam still, bis auf Williams Geplapper gab es kaum einen Laut.
Dann kam der Abschied.
William und John umarmten sich, Catherine küsste ihn auf die Stirn. Gerne wäre er mit ihnen mit zu Onkels Burg gegangen und hätte die Tante und die Vettern und Cousinen besucht, aber der schwarze Mann meinte nur, Vater hätte eindeutige Anweisungen gegeben. Einen Lord Laren ließe man nicht warten. Der Onkel sprach noch kurz und leise mit dem schwarzen Mann, John konnte nicht verstehen, was. Ihm fiel aber auf, dass der Onkel den Ritter nicht ein einziges Mal ansah.
Dann nickte der Onkel plötzlich, trat auf John zu und auch er schloss seinen Neffen in die Arme.
John sah seinen Geschwistern beim Aufbruch zu: Der Onkel ritt am der Spitze des Zuges, gefolgt von William und Catherine. Sein Bruder war sichtlich stolz, seine Schwester saß ruhig und würdevoll auf ihrem Pferd. Sie war die Einzige, die sich später noch einmal zu ihm umdrehte. Die Hauskerle des Onkels bildeten mit dem Gepäck die Nachhut.
John blickte ihnen hinterher, bis sie nur noch ein Punkt am Horizont waren.
Nun verabschiedeten sich auch Tibbs, Quentin und Harold von ihnen. Die drei wollten bis zum Einbruch der Dunkelheit so weit wie möglich von der Totenstadt entfernt sein, also legten sie sich in die Riemen und paddelten gegen die Strömung an.
„Wir müssen weiter.“ sagte da plötzlich jemand hinter ihm. John zuckte zusammen. Der schwarze Mann! Ihn hatte er ganz vergessen!
John wandte sich um. Der Ritter musterte ihn mit seinem kalten, unergründlichen Blick. John fiel auf, dass die Augen des Mannes noch schwärzer waren als seine Kleidung. Wie schwarze Steine in denen sich die Flammen eines hellen Feuers spiegelt.
John ging zu seinem Beutel und hob ihn auf. Warum weiß ich eigentlich nicht seinen Namen? Dachte John während er den Trageriemen über seine Schulter schob und er stellte die Frage einfach:
„Sag mir, warum weiß ich Deinen Namen nicht? Wie heißt Du?“
Obwohl seine Frage ja ganz natürlich und auch nicht unhöflich war, fühlte sich John, als habe er etwas Unanständiges getan. Der schwarze Mann schwieg einen furchtbar langen Moment, dann sagte er in seiner leisen, knurrigen Stimme:
„Hegin.“
John nickte.
Der schwarze Mann ging los und John lief ihm hinterher.
Hegin. Ein seltsamer Name! Ob der schwarze Mann aus dem Norden kam? Dort hießen die Leute so komisch. Es würde auch dazu passen, dass der schwarze Mann so groß war. John dachte auch an die Geschichten vom geheimnisvollen Thule, von den Kriegern aus dem Norden, und von den Schlachten, die die Ritter des Reiches gegen sie geschlagen hatten. Er träumte von den schlanken Drachenschiffen und dem Blut, dass die Ebenen der Marschen getränkt hatte.
Da riss ein lautes Geräusch John aus seinen Tagträumen und er sah auf.
Vor ihnen war ein großes Tor in der Mauer aufgetaucht. Es war mit Kupfer beschlagen und das Metall war so glatt poliert, dass es wie Gold in der Sonne funkelte. Seine Flügel schwangen mit einem lauten Knarren auf. Hegin schritt einfach hindurch und John folgte ihm. Es war niemand zu sehen.
Die Häuser, die sie passierten, waren einfache, kleine Steinhäuser, fast so, wie man bei John zu Hause auch baute. Nur hatte hier jedes Gebäude große Glasfenster.
Hier wohnten also die Toten der Hymren!
Ob die Leichen in den Häusern wie in einer Gruft aufgebahrt lagen? Oder waren sie dort gestapelt? Wurde eigentlich jeder Hymren hier bestattet? Dann müssten hier ja viele, viele hundert, vielleicht sogar tausend Tote in den Häusern sein!
John fröstelte.
Pötzlich blieb Hegin stehen.
„Hab keine Angst,“ sagte er und selbst seine leise grollende Stimme kam John in dieser toten Stadt so laut vor wie ein Donner. „Solange Du in meiner Nähe bleibst, kann Dir nichts passieren – und vergiss eines nicht:
Wir wollen sie nicht stören!“
John wagte nicht, etwas zu sagen, also nickte er und es ging weiter.
Nach einer Weile bemerkte John, dass die Häuser auf der rechten Straßenseite einfacher und klobiger wurden und sie hatten auch keine Glasfenster mehr. Es roch nach Essen.
Einen Moment lang drängte sich das Bild von bleichen, kalten Gestalten an Pfannen und Kochtöpfen in Johns Kopf, doch diesen Gedanken schob er schnell beiseite.
Vor einem dieser Häuser trafen sie auf eine Gruppe Männer. Es waren Sang. Einige von ihnen standen auf der Straße herum, andere hockten auf dem Pflaster und hatten Flaschen neben sich stehen. Sie waren offensichtlich betrunken.
Drei der Männer gingen auf sie zu und starrten sie feindselig an. Sie hatten alle pechschwarzes Haar und ebenso scharze, stoppelige Bärte. Ihre Augen waren dunkel und auf den Köpfen trugen sie diese lustige, braune Mütze, die alle Sang trugen. Doch die Männer hier waren überhaupt nicht lustig. Der vorderste der Sang steckte die Daumen in seinen Gürtel und seine Augen glitzerten böse.
John wich unwillkürlich auf die linke Straßenseite aus, nur Hegin stapfte völlig unbeeindruckt weiter. Er legte die linke Hand an den Knauf seines Schwertes und da wichen die Sang wieder zurück. John ging einen Schritt schneller.
John war jetzt ganz nah an einem der Fenster und sah in das Haus hinein.
Da drinnen war eine gut eingerichtete, kleine Stube. Sie wurde von einem großen Kamin beherrscht. Auf dem Sims standen Kerzenständer und kleine Figuren aus Silber. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch mit einer Art Krug darauf, darin war ein Strauß aus frischen Schnittblumen. Die Wände sahen aus, als hätte man dort bemalte Stoffe aufgehängt. Auf einem roten Diwan (John hatte noch nie einen Diwan gesehen, aber das musste einer sein, so weich sah er aus) saß, in eine dunkelbraune Hose und eine ebenso dunkelbraune Jacke gekleidet, eine Leiche.
Der Tote war ganz dünn und ausgemergelt, das Gesicht kaum noch zu erkennen. Die Haut der Leiche war getrocknet und die Lippen hatten sich zurückgezogen, so dass es aussah, als würde der Tote die Zähne fletschen. Auf dem Kopf trug er keine Kopfbedeckung, nur dünne Strähnen aus grauem Haar waren da, sorgsam gekämmt.
Aber das alles bemerkte John nicht wirklich, denn da war etwas, was ihn schlagartig erstarren ließ.
Die Augen.
Sie sahen ihn an.
Die Augen des Toten waren nicht verfallen oder ausgetrocknet, kein trüber Film bedeckte sie. Nein. Sie waren ganz hell und klar.
Und sahen ihn an.
John konnte nicht anders als zurückzuschauen. Er fühlte, wie ihm kalter Schweiß den Rücken herunterlief.
Sein Herz setzte einen Schlag aus, als ihn plötzlich jemand an der Schulter berührte.
„Wir wollen sie nicht stören!“ zischte Hegin und John riss sich von dem Anblick los. Hegin sagte nichts und ging einfach weiter. John folgte ihm.
Den Rest des Weges sah er nicht vom Boden auf.