Aus dem Archiv: Nekropolis 3; Die Nacht

Die Herberge war ein wuchtiges Gebäude, errichtet aus dicken, grauen Steinen. Die Fenster hatten stabile Läden und waren so hoch über dem Boden, dass John nicht hineinsehen konnte. Die Schwelle zur schweren Tür aus Eichenholz befand sich auf der Höhe von Johns Brust und man musste über eine breite Holzleiter ins Innere klettern.

John gefiel das ganz gar nicht, denn er kannte diese Bauweise von zu Hause:

So baute man, wenn man sich vor Feinden schützen musste.

Drinnen mussten sie noch an zwei Sang vorbei, die in einer kleinen Stube mit dicken Knüppeln Wache hielten. Dann kamen sie in einen langen Flur, dessen linke Wand die Seite einer hohen Treppe war. Hier begrüßte sie die Wirtin. Sie war ebenfalls eine Sang – die erste Frau, die John hier zu Gesicht bekam – und sie war klein und rund und freundlich. Vor Hegin verneigte sie sich respektvoll, aber John streichelte sie voller Freude den Kopf und die Wangen. Erst wunderte sich John, warum die Frau so entzückt von ihm war, aber dann fiel ihm ein, dass es hier vielleicht nur weniger oder gar keine Kinder gab.

Hegin sprach nur kurz mit der Wirtin in der klangvollen, aber für John völlig unverständlichen Sang-Sprache und ging dann ohne zu Zögern die Treppe hinauf. Er schien sich hier auszukennen.

Ihr Zimmer war einfach, aber komfortabel eingerichtet, in den zwei Betten lag halbwegs frisches Stroh und John konnte auch kein Ungeziefer darin entdecken. Es gab ausserdem noch einen einfachen Tisch und zwei Stühle, aus dem gleichen Holz gezimmert, wie der gesamte Raum. Teppiche oder Wandbehänge gab es nicht. Trotzdem gab es hier etwas, was John faszinierte:

Das Fenster.

Es war aus Glas!

Wie ganz feines Eis hing es in seinem Rahmen und John fuhr mit den Fingern seine glatte Oberfläche entlang. Durch es hindurch konnte man die Straße sehen und das Haus gegenüber. Es handelte sich um einen ebenso schmucklosen, groben Bau wie ihre Herberge – nur waren seine Fenster noch kleiner als hier und die Eingangstüre war größer. John fiel auf, dass jetzt ein paar Sang-Männer davor herumlungerten.

Noch bevor er Hegin danach fragen konnte, klopfte es an der Tür und die Wirtin brachte das Abendessen.

Sie stellte ein Tablett mit dampfenden Schalen auf den Tisch, tätschelte Johns Wange und ging dann nach ein paar Verbeugungen wieder hinaus. Das Essen bestand aus Dingen, die John in seinem Leben noch nie gesehen hatte:

Warme Teigröllchen, gefüllt mit Gemüse und deftig gewürzt, Lange, weiche Fäden, von denen Hegin behauptete, man würde sie aus Mehl herstellen. Dazu Möhren und Zwiebeln in einer würzigen Tunke.

Es schmeckte wunderbar! John langte tüchtig zu. Da Hegin nur wenig aß, bekam John auch dessen Anteil. Bald darauf sank er mit vollem Bauch in sein Bett. Hegin hingegen hatte sein Schwert abgeschnallt und vor sich auf den Tisch gelegt. „Schlaf ruhig,“ sagte er und seine Stimme hatte mit einem Mal einen beruhigenden, warmen Klang, „ich werde solange wachen.“

John versank in einen tiefen Schlaf. In seinen Träumen fuhren gelbe, tote Sang mit Booten den Fluß hinauf. Die Boote sahen aus wie Teigröllchen und waren mit Gemüse gefüllt.

Ein lauter Schrei weckte John auf. Es war dunkel, nur durch das Fenster drang fahles Licht. Direkt neben dem Fenster stand Hegin. Sein Schwert steckte in der Scheide und er hielt es in seiner Linken. Von der Straße drang Lärm zu ihnen hinauf. Was war los? Waren die Toten auferstanden? Plötzlich war John hellwach und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Vor seinem inneren Auge sah er eine Armee von Leichnamen durch die Straßen ziehen, die Gesichter zu einem ewigen Grinsen verzogen …

„Keine Angst,“ sagte da Hegin vom Fenster her, ohne ihn anzusehen „Du bist in Sicherheit.“ John wollte aufstehen, doch Hegin bedeutete ihm mit einer Handbewegung, liegen zu bleiben. In diesem seltsamen Licht hier sah der Ritter aus wie eine alte Statue.

Endlich traute sich John zu fragen:

„Was ist los?“ flüsterte er.

Hegin atmete hörbar ein. „Die Männer der Sang,“ erklärte er leise „sind nicht besonders diszipliniert. Sie trinken gerne und dann vergessen manchmal welche von ihnen, vor Mitternacht in einer Unterkunft zu sein. Irgendwann ist es dann zu spät und die Türen sind verschlossen.“

John stellten sich die Nackenhaare auf. Was geschah denn, wenn man um Mitternacht noch draußen war? Johns Körper verkrampfte sich, er traute sich nicht, sich zu bewegen. In ihm tauchten wieder die Bilder der Toten auf, wie sie in ihren Häusern aufstanden, mit wackelndem Schritt auf die Straßen gingen, auf der Jagd nach allem, was lebte.

Der Lärm ebbte ab. Als es wieder ganz still war, drehte Hegin seinen Kopf und sah ihn an. Dann kam er zu ihm herüber und legte ihm die rechte Hand auf die Stirn. Sie war rau, warm und trocken. Hegin sprach ein Wort, das John nicht verstand und dann schlief der Junge sofort wieder ein.

Als John am nächsten Morgen erwachte, war Hegin schon auf und hatte bereits gepackt. Die Sonne schien fröhlich zum Fenster hinein. John hatte tief und traumlos geschlafen. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass das Frühstück hereingebracht worde war!

Es gab runde Bällchen aus gekochtem Getreide. Sie waren kalt und es gab diesmal keine Tunke dazu. Trotzdem war John hungrig und aß mit Appetit, bis er aus dem Fenster auf das gegenüberliegende Haus sah. Da fiel ihm die letzte Nacht ein und er hatte keinen Hunger mehr. Er stand auf und wischte sich die Finger an seinem Hemd ab.

Er wollte nur noch weg aus dieser unheimlichen Stadt!

Hegin bezahlte ihre Unterkunft mit ein paar Münzen und sprach noch kurz mit der Wirtin, die John über die Haare strich wie einem kleinen Kind und ihm noch einen Honigkuchen zusteckte. Die Wächter öffneten das Tor, John und Hegin schulterten ihr Gepäck und sie traten auf eine sonnendurchflutete Straße hinaus.

John winkte noch zum Abschied und schon ging es los. Hegin sprach wieder, ohne John anzuschauen:

„Bis zum Nordtor ist es nicht weit. Bis zum Mittag sind wir aus der Stadt heraus. Dort besorgen wir uns dann Pferde.“

John nickte.

Im hellen Licht des Tages sah die Stadt seltsam freundlich aus. Ab und zu trafen sie auf einen Sang, der die Straße fegte oder etwas an einem Haus reparierte. Dies hier hätte auch eine der großen Städte im Süden sein können, wäre es nur nicht so still gewesen – und wenn seine Bewohner keine vertrockneten Leichen wären.

Wieder stellten sich Johns Nackenhaare auf und er schritt kräftig aus. Er wollte diesen verfluchten Ort endlich hinter sich lassen!

In die Fenster sah er nicht mehr.