Die Unterwelt

Unter den heißen Pflastersteinen der Straße wird es schnell kühl und dunkel. Hier beginnt die Welt des Wassers, dass stinkend durch die Röhren fließt. Auf den Flüssen der Unterwelt schwimmen Köttel im Schaum. Ratten huschen durch die Schatten. Es blubbert und rauscht, die Luft ist stickig. Ab und an kommen Menschen hier vorbei und leuchten alles aus. Manchmal suchen sie etwas oder jemanden, manchmal bessern sie die Kanäle aus. Aber jedes Mal verschwinden sie wieder und überlassen die Welt des Wassers den Schatten.

Direkt unterhalb der Wasserwelt beginnt das Reich des Herrn der Maden. Alles wimmelt hier von weißen, grünen und rosa Gewürm. Sie kriechen übereinander, bohren sich in die weiche Erde, immer auf der Suche auf einen Weg nach oben, auf einen Weg ans Licht, auf einen Weg zum Fressen. Gelangt hier einmal ein Mensch oder ein Tier hinunter, so versinkt er in Wogen von Maden, die sein Fleisch bis auf die Knochen abnagen. An einigen Stellen, an denen der Herr der Maden gerade kein gesteigertes Interesse hat und die deswegen nicht so dicht mit seinen Kindern bedeckt sind, kann man gut die blanken Skelette ihrer Opfer sehen. Zum Glück stampfen die Menschen immer den Boden unter sich fest, legen Steine darauf oder versiegeln ihn mit Asphalt und Beton. So kann der Herr der Maden seine Kinder nicht nach oben auf Beutetour schicken. Doch stetig wimmeln und suchen sie weiter.

Ein wenig tiefer als die Welt der Maden liegen die leeren, schwarzen Stollen. Sie liegen still und dunkel. Vielleicht dringt einmal das Geräusch eines Wassertropfens durch sie hindurch, sonst nichts. Hier war einst ein Ort der Arbeit und des Lärms. Männerschweiß floss in Strömen und man schrie sich an über das Geknatter der Presslufthämmer. Nun wacht hier die heilige Barbara über die Stille – die heilige Barbara und noch etwas, was lautlos durch die lichtlosen Gänge streift. Verirrt sich mal eine Made von weiter oben hier hin, so nützt ihr kein Kriechen und kein Zappeln, denn dieses Wesen kommt herein und verschlingt es schnell und ohne jeden Laut.

Verlässt man die Stollen in Richtung des Erdmittelpunktes, so findet man einen viel schöneren Ort: Hier wölben sich große Hohlräume in den Fels. Kristalle an der Höhlendecke verbreiten freundliches Licht und es wachsen hier weiche Moose und sanftmütige, farbige Pilze. Lustige Gnome wohnen hier. Sie tanzen und lachen gerne, was vielleicht ein wenig am Konsum der bunten Pilze liegen kann. Sie bewachen und umtanzen ein großes Ei, dass hier mitten in der größten Höhle ruht und auf seine ersten Risse wartet. Gerne wären wir hier, wenn dieser Tag gekommen ist: Wenn die Schale knittert und kracht und große Brocken davon zu Boden fallen. Das glibberige Eiweiß wird fließen und ihm entsteigen wird eine Frauengestalt von edelstem Wuchs. Sie wird groß sein mit langem, jetzt noch verschmiertem Haar. Ihr Taille wird schmal sein, ihr Becken jedoch so breit, dass es bei Studentinnen teilweise zu Unwohlsein führen kann. Die Schleimgeborene wird dem Ei entsteigen, ihre Nase dabei frech empor gereckt. Nachdem die Gnome sie gereinigt haben, wird die Schöne sich auf machen in die Welt. Zu gerne wären wir dabei.

Noch tiefer hinab hausen die Dämonen. Ihre Welt ist aus Feuer und Stein. Sie singen und gröhlen ohne Unterlass, denn nur so können sie ihren ewigen Hunger und ihre ewige Geilheit übertönen. Ja, sie sind für immer bis auf das äußerste erregt, denn das ist Teil der Strafe für ihre Rebellion. Sie wollten Freiheit? Sie wollten Leben? Sie wollten Lust? Sie bekamen mehr davon als ihnen lieb ist! Wenn sich doch ein wagemutiges Menschenkind an diesen Ort verirrt, so stürzen sich die Dämonen voller Verzweiflung auf ihn. Die Hallen ertönen dann von Schreien aus Lust und Schmerz. Noch nie hat jemand gegen die Gier der Dämonen bestanden, sie alle haben sich ihnen hingegeben, während schon die Eisenspieße für das Grillfeuer bereit lagen. Nun sind wir doch ganz froh, dass die wunderschöne Schleimgeborene noch nicht aus ihrem Ei geschlüpft ist, denn wir möchten nicht, dass sie ein Festessen für diese Monster wird.

Kurz vor dem Mittelpunkt der Erde ist es wieder still, noch stiller als in den Stollen der heiligen Barbara. Nur ab und an, einmal vielleicht in hundert Jahren, stöhnt und ächzt das Gestein unter der unglaublichen Last, die es zusammendrückt. Einmal in tausend Jahren knackt es gewaltig, doch dann ist es wieder still und ruhig, denn der Fels ist geduldig. Er trägt das alles: Die Dämonen, die Gnome, das Ei, die heilige Barbara und ihr Haustier, die Maden mit ihrem Herren, die Kanäle voller Ratten und Scheiße und dann noch uns: Wir Menschen mit unseren Schuhe und vollen, schweren Einkaufstüten.

Eigentlich sollten wir ein wenig dankbarer sein.