Aus dem Archiv: Noch einen letzten Schritt

Einen Schritt. Noch einen. Dann noch einen. Draußen holten sie die letzten Überlebenden aus ihren Verstecken, zerrten sie in den Innenhof und hackten sie in Stücke. Sie taten das mit viel Lachen und Singen, denn sie wollten die Leute, die sich noch im Bergfried verschanzt hatten, mürbe machen. Sie wussten ja nichts von der kleinen Tür im Keller und davon, dass er von ihr wusste und bis sie das Haupttor des Bergfrieds aufgebrochen hatten, wäre er längst fertig.

Er war jetzt ganz oben angekommen. Natürlich hatten ihn die Wachen hier nicht ohne Widerstand durchgelassen. Er hatte sie alle töten müssen.

Nun ging er langsam und schwerfällig einen blauen Gang entlang. Sein Schwert hielt er nur noch am Knauf und die Schwertspitze schleifte über den Boden. Dabei malte sie eine dünne, rote Linie auf den blauen Marmor. Ab und zu klecksten auch große Tropfen seines eigenen Blutes dazu. Er blutete aus vielen Wunden. Die Wachen hatten ihr Leben teuer verkauft.

Er machte eine kleine Pause und sah sich um: Alles hier war blau. Der Fußboden war blau, die Wände waren blau, ebenso die Decke. Im wurde schwindelig.

Langsam! mahnte er sich. Du hast es fast geschafft!

Dieser blaue Gang schien endlos zu sein. Doch ganz weit hinten konnte er etwas erkennen – etwas, das nicht blau war. Das Bild verschwamm ihm vor seinen Augen. Ihm wurde übel und er verlor das Gleichgewicht. Er ließ sein Schwert los und erst im letzten Moment konnte er sich an einer kleinen blauen Ziersäule festhalten. Die blaue Vase darauf fiel herunter und zersprang in tausend blaue Scherben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er das Scheppern seines Schwertes auf den Fliesen hörte.

Einatmen.

Ausatmen.

Langsam ließ er die Säule los und ging vorsichtig weiter.

Einen Schritt. Noch einen Schritt.

Ein Blutstropfen auf dem Boden. Noch einer.

Das Bild vor ihm wurde langsam ein wenig klarer. Da stand eine Gestalt! Eine Frau! Die Frau stand ganz ruhig dort und schien auf ihn zu warten.

Langsam! Jetzt nicht übermütig werden! Spar Dir Deine Kräfte!

Noch ein Schritt.

Und noch einer.

Das Leben floss aus ihm heraus wie Wein aus einem löchrigen Schlauch, aber bis zu ihr würde es reichen.

Endlich konnte er mehr sehen und trotz der vielen Wunden, trotz der Schwäche klopfte sein Herz voller Freude:

Sie war es wirklich.

Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid und ihre roten Haare lagen offen auf ihren Schultern. Ganz gerade stand sie da und sah ihn erwartungsfroh an. Sie lächelte.

Die letzten Schritte bis zu ihr ging er schnell, fast so, als wäre er überhaupt nicht verletzt. Dann blieb er vor ihr stehen und schaute in ihre großen, tiefblauen Augen.

Blau.

Irgendetwas, ein Gedanke oder eine Ahnung, kitzelte ihn ganz kurz an seinem Hinterkopf, aber das wischte er schnell beiseite. Jetzt nicht!

Sie waren so lange getrennt gewesen. So unendlich lange – und nun stand sie da und lächelte ihn an. Ihm wurde klar, dass dieses Lächeln das alles wert gewesen war: Der ganze Dreck, der Krieg, der Hass und am Ende nun auch sein eigenes Leben.

Er konnte nicht anders und hob seine Hand, seine grobe, schmutzige Hand, um sie zu streicheln. Leider konnte er sie nicht riechen, denn seine Nase war voll von Blut und Tod.

Sanft strich er ihr über das Haar.

Ihr Haar zersprang wie blaues Glas.

Ihr Gesicht zersprang wie blaues Glas.

Ihr Kleid, ihr Körper zersprang wie blaues Glas.

Fassungslos sah er zu, wie sie in unzähligen blauen Stücken zu Boden fiel und sich in Staub auflöste.

Eine Illusion.

Sie war nie hier gewesen.

Man hatte ihn reingelegt.

Alles umsonst! dachte er noch, als der Raum um hin herum anfing sich zu drehen.

Irgendwann hatten sie sich dann doch ans Werk gemacht und die Tür zum Bergfried aufgebrochen. Sie staunten nicht schlecht, als sie die Besatzung des Bergfrieds bereits erschlagen vorfanden. Hier musste jemand wie ein Berserker gewütet haben, denn die Wachen lagen wild durcheinander mit verdrehten oder abgehackten Gliedmaßen. Aber dieser jemand hatte auch einstecken müssen, das konnten sie an der Blutspur auf dem Boden erkennen. Sie folgten der Spur bis ganz nach oben.

Als sie ihn fanden, war er schon längst tot.