Die Flucht

Er saß ganz still im Gebüsch auf dem kleinen Hügel und beobachtete im Licht der untergehenden Sonne die Männer auf dem Boot. Sie räumten ihre Angelruten zusammen, reinigten hier einen Grill, dort eine Scheibe und rauchten dabei. Sie ließen sich Zeit, denn sie wollten unbedingt bis zum Einbruch der Dunkelheit hier draußen bleiben, ohne Verdacht zu erregen. Sie taten dies, damit er dann im Schutze der Nacht auf das Boot kommen und sie ihn dann auf die andere Seite des Flusses bringen.

Über die Grenze, in Sicherheit.

Langsam dreht er sich um, denn er war satt, den Männern dort unten zuzusehen, wie sie sich lachend unterhielte, während er nur auf das verlockende Grün auf der anderen Seite schauen konnte. Nun konnte er das kleine Städtchen sehen, wie es friedlich dalag. Die ersten Fenster waren schon erleuchtet. Ruth und er hatten wir vor Jahren einen Urlaub verbracht. Sie hatten diese schöne Landschaft mit ihren Seen und Flüssen durchwandert, hatten viel geredet, gelacht und sich geküsst. An mehreren Abenden hatten sie nach einer ausgedehnten Wandertour keine Lust auf einen Restaurantbesuch gehabt und waren in einen kleinen Dönerimbiss eingekehrt, der am Ortsrand neben der Tankstelle gestanden hatte. Der Mann hinter der Theke mit seinem herrlich klischeehaften Schnurrbart hatte sich immer wieder sehr gefreut, dass so ein ,,schönes Liebespaar’’ gerade seine bescheidene Hütte besuchen würde. So einfach dieser Imbiss gewesen war: Er war ihnen beiden wie das feinste Restaurant in Paris vorgekommen, alleine durch die Freundlichkeit dieses Mannes aus Anatolien.

Dort, wo der Imbiss gestanden hatte, war jetzt nur noch eine schwarz ausgebrannte Ruine. Das kleine Gebäude hatte nicht lange nach der neuen Machtergreifung gebrannt wie viele Döner-Imbisse, Pizzerien, Moscheen und Synagogen.

Er griff in ein seine Hosentasche und holte sein Smartphone heraus, aber dann fiel im ein, dass es ja ausgeschaltet war, damit man ihn nicht orten konnte. Auch würde ihn sowieso niemand anrufen. Eine SMS würde er auch nicht bekommen.

Ganz besonders nicht von Ruth.

Sie hatten die Sache mit der neuen Machtergreifung erst nicht sonderlich ernst genommen. Sie waren beide ein frisch verliebtes Paar und viel zu sehr mit sich selber beschäftigt als mit der Politik. Außerdem sagten doch alle, dass die neuen Machthaber, würden sie erst einmal die Verantwortung tragen, sich entweder beruhigen oder selbst demaskieren würden.

Sie wären niemals auf die Idee gekommen, dass die ganzen Umwälzungen auch sie betreffen würden. Sicher: Die Ausländer hatten ihnen schon leid getan, aber die meisten waren eh schon vor dem Regierungswechsel freiwillig gegangen und die anderen hatten immerhin bei ihrer Abschiebung eine kleine Entschädigung erhalten. Natürlich war ihm auch ab und an der Gedanke gekommen, dass Ruth ja jüdischer Herkunft war – allerdings hatten nicht einmal ihre Eltern den Glauben praktiziert. Ihren Vornamen war lediglich ein Zugeständnis an die Familie gewesen.

Sie hatten sie abgeholt, als er auf der Arbeit gewesen war. Er hatte nur noch eine durchwühlte, aber menschenleere Wohnung vorgefunden. Alle Anrufe und Besuche bei der Polizei hatten nichts gebracht. Irgendwann hatte man ihm gedroht, dass ,,jeder, der die Abläufe stört’’ einfach verschwinden könne. Auch wenn das Internet schon längst ,,geläutert’’ war, wie man das jetzt nannte, sickerten Gerüchte und Fotos durch von den Gruben, die sie im Osten ausgehoben und mit Menschen gefüllt hatten. Freunde hatten ihn teils mit Gewalt daran gehindert, dorthin zu fahren, in den Osten, wo sie seine Ruth hingebracht hatten. ,,Sie ist tot!’’ hatten sie ihm gesagt ,,Niemand von ihnen hat das überlebt!’’

Sie hatten sich so gut um ihn gekümmert, wie es ging. Seine Freunde hatten ihm auch Bargeld, den falschen Pass und die Überfahrt über die Grenze besorgt. Er hatte das alles einfach geschehen lassen. Was hatte das denn überhaupt für einen Sinn? Wozu leben ohne Ruth? Ohne ihre roten Haare, ohne ihr fröhliches Lachen, ohne die hübschen Grübchen? Warum fliehen, wenn sie doch nicht auf ihn warten würde, sanft und freundlich?

Doch im Laufe der Flucht, sah er mehr und mehr die Verheerungen, welche die neue Machtergreifung hinterlassen hatte und die sich noch weiter durch das Land fraßen: Gewalt und Tod, Hass und Verachtung. Verbrannte Häuser. Geschändete Friedhöfe. Behinderte, die man aus ihren Heimen geholt, erschossen und in Plastiksäcke gewickelt hatte zur Abholung in die Müllverbrennungsanlage. Die verzerrten Fratzen der Menschen, immer auf der Suche nach dem nächsten Opfer für ihren wilden Hass.

Da war ihn im etwas erwacht und ihm war bewusst geworden, dass dieser Wahnsinn gestoppt werden musste. Da die Polizei, die Verwaltung und die Streitkräfte auf Linie mit der neuen Regierung war, kam direkter Widerstand nicht in Frage. Außerdem wäre er wegen seiner jüdischen Freundin ja verdächtig. Also musste er sich erst ins Ausland absetzen und von dort in relativer Sicherheit die nächsten Schritte planen. Man wusste von anderen, die bereits im Exil lebten und sich dort organisieren.

Er steckte sein Handy wieder ein und fühlte durch die Jacke seinen gefälschten Pass. Mit ihm würde er auf der anderen Seite der Grenze durch die ersten Kontrollen kommen und könnte dann politisches Asyl beantragen. Er würde den Kampf gegen die Rechten aufnehmen. Er musste, damit das alles hier überhaupt einen Sinn ergab.

Nun war die Sonne untergegangen. Lichter spiegelten sich auf dem ruhig dahingleitenden Fluß. Da sah er auf dem Boot eine Laterne aufleuchten. Das war das Zeichen!

Er stand auf und verließ sein Versteck. Langsam und aufrecht, wie man es ihm beigebracht hatte, ging er auf den Fluss zu.