Der Stadtteil

Zu Beginn war die Aufregung noch groß gewesen, als der Duisburger Stadtteil Ruhrort durch die Sanierung der Karl-Lehr-Brücke faktisch vom Rest des Stadtgebietes abgeschnitten wurde. Ruhrort war schon immer eher schlecht zu erreichen gewesen, da er vom Hafen, von großen Industrieanlagen, dem Rhein und der Ruhr mehr oder weniger umzingelt war. Der Hauptzugang erfolgte deswegen über die Brücke und die war nun dicht. Theoretisch hätte man noch über den Nachbarstadtteil Meiderich fahren können, aber dort war alles so sehr mit Brennnesseln zugewuchert, dass überhaupt kein durchkommen war.

Jeder fragte sich: Wie sollte Ruhrort denn nun versorgt werden? Wie sollten die Kinder zur Schule, die Erwachsenen zur Arbeit kommen? Über den Fluß? Über die Hafenbecken?

In den ersten Tagen nach Beginn der Bauarbeiten wurde in der Zeitung und im Lokalradio noch viel über Homeschooling und Homeoffice diskutiert, doch diese Themen wurden bald von den Skandalen überlagert, die um die Sanierung der Karl-Lehr-Brücke ans Tageslicht kamen: Da meldete sich ein Schweißer bei der Polizei und erstattete Selbstanzeige wegen missglückter Nähte, da mussten Landespolitiker wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten und mehrere Vorarbeiter wurden beschuldigt, Mitglieder in einer satanistischen Anal-Sekte zu sein. Die Öffentlichkeit stürzte sich geifernd auf diese tollen Geschichten und der Stadtteil, um den es eigentlich ging, verschwand aus dem öffentlichen Fokus. Auch flossen immer weniger persönliche Nachrichten von der anderen Seite der Ruhr, was aber niemanden groß kümmerte, da ja jeder auf den gerade angesagten Social-Media-Plattformen Flick-Flock, Y und Narwal schnell neue Freunde fand.

Durch die Skandale verzögerte sich die Fertigstellung der Brücke um ungefähr zwanzig Jahre.

Als die Brücke dann endlich fertig und die Gerüste abgebaut waren, schnitt der Bürgermeister das berühmte rote Band durch und eröffnete sie für den Verkehr.

Von der anderen Seite näherte sich eine Gruppe Menschen. Sie waren blass, trugen ausnahmslos die Haare lang und hatten unnatürlich große Augen.

Mit ihnen schauten sie freundlich und neugierig in eine für sie vollkommen fremde Welt.