Aus dem Archiv: Nekropolis 1; Auf dem Fluss

Dank der Strömung kamen sie gut voran. Die Landschaft zog an ihrem Boot vorbei und der kleine John konnte sie sich bequem anschauen: Große, graue Findlinge lagen am Ufer herum und die Bäume waren hier klein und verkrüppelt. Selbst das Gras, das auf dem steinigen Boden wuchs, war ganz gelb.

Erst an den Hängen etwas weiter weg wurden die Bäume größer und grüner. Kiefern und Tannen waren es hauptsächlich, dazwischen ein paar junge Eichen.

Die Luft war frisch und klar, sie waren auf Reisen – es war herrlich!

Er schaute zu seiner älteren Schwester auf, die neben im saß. Catherine war jetzt zwölf Jahre alt und seine Tante würde schon bald eine richtige Dame aus ihr machen. Ein bisschen wie eine Dame sah sie jetzt schon aus mit ihren langen braunen Haaren und den kleinen Sommersprossen in ihrem Gesicht. Ihre Ähnlichkeit mit Mutter versetzte ihm einen kleinen Stich und wieder spürte er die Tränen in sich aufsteigen. Aber diesmal weinte er nicht. Nicht wie bei ihrem Abschied, als Mutter ihn noch einmal in den Arm genommen hatte. John hatte dabei Heulen müssen und alle hatten verlegen weggeguckt. Jetzt aber blieb er tapfer und blickte nach vorne seinem älteren Bruder William in den rasierten Nacken. William würde als Knappe in Diensten ihres Onkels treten und beim nächsten Wiedersehen mit seinem Bruder würde dessen Haar sicher schon über die Schultern reichen. William würde dann fast ein Mann sein und er, John, auf dem Wege zum Knappen.

Der Nacken von William wurde John schnell langweilig, die Landschaft um sie herum war ebenfalls langweilig und so studierte er auch die anderen Mitglieder ihrer Gruppe: Da waren die beiden Hauskerle ihres Vaters, der mürrische alte Tibbs mit seinen dünnen, weißen Haaren und der Axt im Gürtel und der dicke Quentin mit seinem zufriedenen Grinsen. Auf seinen Oberschenkeln lag eine Keule. Langsam wandte sich John zum Heck des Bootes um. Dort saß am Steuer Harold, der Bogenschütze. Er war ein drahtiger, starker Söldner, der seinen Bogen immer griffbereit hatte. Vor ihm jedoch, direkt hinter John und seiner Schwester saß der schwarze Mann.

Dieser Ritter trug immer schwarze Gewänder und sein Gesicht, sein Hals und sein kahler Schädel waren voller Narben. Die Narben fanden sich sogar auf seinen Händen. Zu Hause munkelten die Dienstboten und Hauskerle, dass sein ganzer Körper über und über mit Narben bedeckt sei und dass die vielen weißen Linien magische Symbole bildeten. Bannzeichen. Schutzzeichen. Er sprach so gut wie nie ein Wort, so selten, dass ihn manche den „stummen Diener“ nannten.

Der schwarze Mann war vor einigen Jahren in Vaters Dienste getreten. John war da noch sehr klein gewesen. Alle hatten sich vor dem schwarzen Mann gefürchtet, erst recht, nachdem er in der Schlacht gegen die Hemming an der Seite von Vater gekämpft hatte. Die Hauskerle flüsterten am Feuer in der Halle vom Kampf des schwarzen Mannes, wie sein graues Schwert die Feinde reihenweise niedergemäht hatte und dass er ausgesehen habe wie einer der alten Schlachtengötter, über und über mit dem Blut der Hemmings bedeckt.

Nur der kleine John hatte keine Angst vor dem schwarzen Mann gehabt. Ihm war schon als kleines Kind eingefallen, dass es doch ganz natürlich sein musste, wenn so ein Mann so düster guckte und fast nie sprach. Ihm taten doch bestimmt die vielen Narben weh!

Auch John hatte Schmerzen, denn die Ruderbank, auf der er saß, war hart und schmal, selbst für einen kleinen Hintern wie er einen hatte. Aber John blieb tapfer und verzog nicht das Gesicht. Er rutschte nur ein wenig hin und her.

Heute Abend würden sie bei der Totenstadt ankommen und dort würden sie ihren Onkel treffen. William und Catherine würden mit ihm mitgehen, während die Hauskerle flussaufwärts nach Hause fahren würden.

John und der schwarze Mann aber würden weiterreisen bis ins Hochland. Dort würden beide in den Dienst von Lord Laren treten.

Aber erst die Totenstadt! John wurde ganz mulmig bei dem Gedanken daran. Angeblich wohnten in dieser Stadt wirklich nur tote Menschen. Das Volk der Hymren hatte diese Stadt gebaut und noch immer brachten ihre goldenen Barken ihre Verstorbenen dorthin. Die Alten erzählten, dass die Toten in der Stadt durch die Straßen liefen und in Häusern wohnten so als ob sie noch lebten. John schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Er durfte keine Angst haben! Er wollte doch mal ein Ritter werden – und Ritter hatten vor nichts und niemandem Angst!

„Zappele nicht so herum!“ sagte da seine Schwester zu ihm „Wir sind ja bald da.“

John riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf Williams Nacken.

Der Fluss glitt dahin.