Aus dem Archiv: Eulenschule

Boris schielte auf seine Armbanduhr. Noch zehn Minuten, dann hätte er es überstanden.

Für heute.

Ohne Mantel, Handschuhe und Barett fühlte sich Boris seltsam nackt – hier, in der Eulenschule.
Die meisten anderen Schüler hockten wie versteinert da, nur Nabiba redete ohne Pause. Es war nämlich offene Fragestunde und da drehte sie immer auf. Gerade mahnte sie an, dass die Biologiestudenten sich nicht so viel auf ihre Naturwissenschaft einbilden sollten. Nur, weil sie fehlerlos Dreiecke malen könnten, wären sie doch nichts Besseres!

Boris nickte zustimmend. Wo Nabiba recht hatte, da hatte sie recht!

Er selbst hatte sie der Universität Oslo – oder war es Ottawa gewesen? – erlebt, diese hochnäsigen Biologen! Die ersten fünf Semester nur Saufen und Vögeln im Kopf und dann jammerten sie herum, weil ihnen die Literaturstellen fehlten!

Nabiba bemerkte die Geste von Boris und lächelte ihn an. Wenn sie nicht so unendlich dünn gewesen wäre, Boris hätte sie durchaus hübsch gefunden mit ihren großen schwarzen Augen und dem persischen Teint.

Aber sie war doch auch nur eine von der Eulenschule.

Boris seufzte still in sich hinein.

Noch fünf Minuten!

Automatisch zog er die Ärmel seines Hemdes nach unten, um die Narben an den Handgelenken zu verdecken.

Jetzt nur nicht nach rechts sehen! – ermahnte er sich – Du hast heute schon viel zu oft nach rechts geguckt!

Rechts von ihm saß nämlich sie.

Es war für Boris eine echte Überraschung gewesen, als sie zu ihnen auf die Eulenschule gekommen war. Eine schöne, eine schmerzhafte Überraschung.

Sie beide kannten sich nämlich von früher und schon immer hatte er sie geliebt.

Vergeblich.

Und nun saß sie fast jeden Tag zu seiner Rechten, gerade, in fast aristokratischer Haltung, wie eine Königin. Ja, sie war eine Königin:

Ihre Haut war wie von Kupfer, die Haare lang und braun bis hinab zu den Knien. Ihre tiefbraunen Augen sahen ihn manchmal an, streng und doch mit ein wenig Mitleid im Blick.

Die Glocke tönte hohl und die Schüler packten ihre Sachen zusammen. Boris stand auf und zog sich langsam seinen Mantel an. Dazu die passenden Lederhandschuhe und zuletzt das schwarze Barett mit dem Enblem der Organisation.

Seiner Organisation.

Er hielt den Blick gesenkt, wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. In der Zwischenzeit dachte er wie so oft über sein Leben nach.

Seine Mutter war die Welt gewesen und sein Vater das Genie. Er war frei gewesen wie ein Vogel:

Kein Land, kein Staat hatte ihn fangen können mit Ideologie, Bürgerschaft oder Geburtsurkunde. Er war viel herumgekommen: Dortmund, Castrop, Istanbul!

Eine internationale Organisation hatte er gegründet, mit einem roten Templerkreuz als Zeichen. Seine Organisation war wie ein Geheimbund aufgebaut, dabei stand sie über jedem Glauben!

Doch jetzt war er nur noch ein Schatten seiner selbst.

Ein Krüppel, ein Wrack.

Boris war jetzt fast der Letzte im Klassenraum, also klemmte er sich seine Aktentasche unter den Arm und ging ebenfalls hinaus.

In Gruppen überquerten sie die Straße zu ihrer Unterkunft, misstrauisch beäugt von den Wachen am Tor. Es waren viele Fuhrwerke unterwegs heute und man musste aufpassen, nicht in einen Haufen Pferdeäpfel zu treten.

Boris huschte zwischen zwei Fuhrwerken auf die andere Seite – und lief fast in sie hinein. Sie stand am Straßenrand, beide Arme ausgestreckt. Ihn beachtete sie fast gar nicht. Nur einmal blinzelte sie kurz. Boris wusste, was das zu bedeuten hatte: Sie maß mal wieder die Abstände zwischen den Fuhrwerken!

Zu sehen, wie eine so schöne und kluge Frau so etwas derart Verrücktes tat, schmerzte ihn im Innersten.

Aber auf die Eulenschule kam man nicht ohne Grund.